»Was heißt hier stur bleiben«, sagte Cyrus. »Warum sind Sie eigentlich so versessen darauf, diesen Mr. Farrell von uns identifizieren zu lassen.«
»Wir wollen wissen, welcher von diesen vier Männern es ist«, sagte er gereizt. »Ah, Mainza, der Landrover ist bereit?«
»Alles drin, Simon.«
»Dann gehen wir. Bring' sie nach draußen, Mainza, ich bringe die Laterne und die Zeltplane. Und was Sie betrifft«, sagte er zu Mrs. Pollifax, »wir reden weiter, sollten Sie aber bei mir nicht reden wollen, Sikota ist der Mann, bei dem jeder redet.«
Sie kletterten in den Landrover. Anscheinend sollte Amy ihre Rolle als unschuldige Geisel weiterspielen, denn als Reuben sie aus der zweiten Hütte zum Wagen führte und sie zwischen Cyrus und Mrs. Pollifax auf den Rücksitz schob, waren ihre Hände noch gefesselt.
Nur einmal sprach Amy. Sie wände sich an Cyrus und sagte kühclass="underline" »Es war schrecklich lieb von Ihnen zu kommen, Cyrus, aber hoffentlich sind Sie sich darüber im klaren, daß wir beide jetzt Geiseln für Mrs. Pollifax sind. Uns werden sie zuerst töten, um sie zum Sprechen zu bringen. Und ob Sie es glauben oder nicht, diese Frau wird kaum zögern, uns zu opfern. Ihr ist alles egal.«
Nachdem sie gestartet waren, verlor Mrs. Pollifax jedes Zeitgefühl. Nicht, daß der Wagen so schnell gefahren wäre, aber bei einer gleichbleibenden Geschwindigkeit von 25 km pro Stunde auf holprigem Boden spürte man jeden Knochen im Leibe. Die Scheinwerfer waren so verhüllt, daß man nur auf geringste Entfernung hin sehen konnte. Zu Beginn ihrer Reise stellte Cyrus fest, daß sie westwärts fuhren. Später wechselten sie die Richtung nach Süden. Sonst wurde nichts gesprochen. Mrs. Lovecraft schwieg beharrlich, und Mrs. Pollifax überlegte, daß bei der Größe des Kafue-Parks Simon genügend Platz zum Ausweichen hatte, und somit jede Suchaktion nach ihnen sehr schwierig würde.
An Aristoteles dachte sie besser nicht. Es war wichtiger zu überdenken, was sie riskieren konnte, um Farrells Leben vor diesen
Leuten zu schützen. Vor Leuten, die selbst vor einer Entführung nicht zurückschreckten. Es ging jetzt ja auch um Cyrus' Leben... Heldenhaft war er hinter ihr hergewandert, und es durfte nicht geschehen, daß er dafür sein Leben lassen sollte. Sie fühlte sich für ihn verantwortlich. Blieb ihr überhaupt eine Wahl? Es war richtig, daß Farrell jünger war, daß er es verstand, solche Leute wie Simon zu überlisten. Und was berechtigte sie zu der Annahme, daß er nicht überleben würde, wenn sie ihn identifizierte? Große Zweifel überfielen sie. Der Zufall hatte sie beide einmal in einer Situation zusammengeführt, die nicht alltäglich war. Schon damals hatten sie verschiedene moralische Vorstellungen. Und seither waren vier Jahre vergangen. Vielleicht schmuggelte er jetzt Drogen oder war in Dinge verwickelt, die sie genauso verabscheute. Sie erinnerte sich lebhaft, wie sie bei ihrer ersten Begegnung über sein verbissenes Gesicht und über seine spöttischen Augen erschrocken war.
Mrs. Pollifax ertappte sich beim Lächeln, als sie an die ersten Reaktionen des >Flüchtlings< aus New Brunswick, New Jersey, Mitglied des Gartenklubs dachte. Was für ein behütetes Leben hatte sie bis dahin geführt, und wie mußte er sich über sie amüsiert haben! Absurder Gedanke - er könnte sich so sehr verändert haben. Ein Mann, der unter der Folter nicht zusammengebrochen war. Der, als er glaubte, sterben zu müssen, zuerst an sie gedacht hatte. Nein, verraten konnte sie ihn nicht, sie konnte es einfach nicht.
Das also wußte sie ganz genau: sie konnte Farrell nicht verraten. Sie wußte aber auch, daß sie Cyrus nicht preisgeben wollte. Am besten wartete sie ab und verließ sich auf ihren Instinkt. Am Ende -falls sie nicht rechtzeitig von einem Suchtrupp gefunden wurden -am Ende blieb ihr vielleicht keine andere Wahl. Sie mußte jetzt einfach warten und die Hoffnung nicht aufgeben. Sie wußte, wenn sie die Fesseln von ihren Handgelenken loswerden könnte, dann würde der sambische Busch von ihren Ki-Ya-Schreien widerhallen.
»Wird Tag«, sagte Cyrus und deutete mit den gefesselten Händen nach draußen. »Muß ungefähr fünf Uhr sein.«
Mrs. Pollifax sah auf, und zum erstenmal seit ihrer Entführung nahm sie die Umwelt wahr. Sie waren umgeben von Dornbüschen und hohem Gras. Und sie fühlte sich dem neuen Tag ganz und gar nicht gewachsen. Als sich dann aber langsam ein warmes, goldenes Licht über der Niederung ausbreitete, und unvermittelt die Sonne am Horizont aufstieg, da erwachten auch ihre Lebensgeister wieder.
Simon und Mainza begannen vorne im Wagen miteinander zu reden. Ihre Sprache war für die anderen nicht zu verstehen.
Dann deutete Mainza nach links, der Wagen bog dorthin ab und hielt in einem Dickicht.
»Wir machen eine Pause«, sagte Simon und schaltete die Zündung aus.
Steif kletterten alle aus dem Landrover, und sie wurden zu einem abgeholzten Flecken Erde geführt, der erfreulicherweise durch die Sonne erwärmt war. Reuben brachte ihnen Schlafsäcke heraus, die sie auf dem Boden ausbreiteten. Sie durften die >Toilette< benutzen, und mit Reuben als Bewacher suchte einer nach dem anderen diesen Platz auf.
Simon und Mainza blieben beim Wagen. Sobald Amy fort und sie mit Cyrus allein war, sagte sie entschlossen: »Wir müssen unbedingt diese Fesseln loswerden.«
»Natürlich, meine Liebe«, bestätigte er ernsthaft, »aber im Augenblick nicht zu machen. Muß zugeben, daß ich mich auf dergleichen nicht gut verstehe.«
Lächelnd antwortete sie: »Sie würden überrascht sein, was Sie alles könnten, wenn Ihr Leben davon abhinge.«
»Ja, aber nehmen wir z. B. an, ich nähere mich unserer Freundin Amy von hinten, schwinge ihr meine gefesselten Arme über den Kopf und ballte Amy wie ein Schild vor mich. Was dann?«
»Dann stelle ich mich hinter Sie.«
»Wir beide verbergen uns hinter Amy?« Er lächelte müde.
»Sie würden nicht wagen, auf uns zu schießen«, protestierte Mrs. Pollifax.
»Sie würden uns einkreisen«, erklärte er.
Mrs. Pollifax biß sich auf die Lippe. »Sie haben recht. Wenn es nur einen Weg gäbe, unsere Hände freizubekommen!«
»Und was dann?« fragte er amüsiert.
»Nun ja, sehen Sie, ich bin nicht schlecht in Karate.«
»Verflixt erstaunliche Frau«, sagte Cyrus verblüfft. »Sollte Grund genug für mich sein, Ihre Fesseln mit meinen bloßen Zähnen durchzunagen.«
»Ich wollte, das ginge«, sagte sie sehnsüchtig. »Die haben die Absicht, mich umzubringen, wenn wir den Friedhof jenseits der Lusaka-Mumbwa-Straße erreicht haben.«
»Friedhof? Von Friedhof war doch gar nicht die Rede«, protestierte er.
»Ich habe sie belauscht... Der Friedhof liegt jenseits der Lusaka-Mumbwa-Straße, die wir wohl an irgendeiner Stelle kreuzen müssen, und gegen Dunkelheit treffen sie dort Sikota.«
»Also«, überlegte Cyrus, »je länger die Fahrt dauert, desto mehr Zeit bleibt uns, einen Schlachtplan auszuhecken.«
Sie nickte. »Warum klettert Mainza wohl auf den Baum da drüben?«
Er drehte sich um. »Könnten uns verirrt haben. Simon brütet über Landkarten, seitdem wir ausgestiegen sind.«
»Das wäre zu schön, wenn wir uns verirrt hätten«, sagte sie, während sie einen scharlachroten Schmetterling beobachtete, der in der Nähe umherflatterte. »Und es geschähe ihnen recht.«
»Bin nicht so sicher, daß es uns recht geschähe«, meinte er. »Leute wie Simon werden leicht reizbar, wenn sie sich verirrt haben. Schlafen Sie jetzt, meine Liebe.«
Sie nickte, legte sich hin und dachte, wie schön es sei, meine Liebe genannt zu werden - und wie beruhigend Cyrus wirkte. Die Wärme der Sonne linderte ihre Muskelschmerzen. Müdigkeit überwältigte sie, und sie schlief ein.
Als sie die Augen wieder öffnete, war es still auf der Lichtung. Und sie bemerkte, daß Cyrus' Schlafsack unbenutzt war. Ohne den Körper zu bewegen, wandte sie den Kopf und sah, daß Amy sich in ihren Schlaf sack vergraben hatte. Nur ein paar Strähnen ihres hellen Haars waren sichtbar. Drüben beim Landrover hatten sich Simon und Mainza ausgestreckt. Sie schliefen auch. Reuben döste vor sich hin. Er lehnte an einem Baum, das Gewehr auf den Knien. Von Cyrus keine Spur. Ihr Blick fiel auf den Landrover, und da sah sie Cyrus, der um den Wagen herumkroch. Mrs. Pollifax blickte zu Reuben und dann zu Cyrus. Sie hielt vor Schreck den Atem an.