Darauf ginge ich jede Wette ein, dachte Mrs. Pollifax. »Nun ja, es wäre wunderbar, unsere Hände frei zu haben«, sagte sie ernst. »Das Gehen mit gefesselten Händen ist so mühsam, aber fliehen...« Sie schauderte. »Ich weiß nicht, aber der Gedanke erfüllt mich mit Entsetzen.« Sie bemerkte, daß Cyrus sie mit einem fragenden Stirnrunzeln ansah, und sie überlegte, warum er sie plötzlich so mißtrauisch betrachtete. »Aber wenn Sie bei ihm erreichen könnten, daß er unsere Fesseln löst«, fügte sie sehnsüchtig hinzu.
»Ja«, sagte Amy, »aber Sie müssen einfach an Flucht denken, wenn die Gelegenheit sich bietet. Sie müssen entschlossener sein.«
»Ja«, seufzte Mrs. Pollifax.
Einen Moment später, als Simon zum Aufbruch rief, erfuhr sie den Grund für Cyrus' seltsamen Gesichtsausdruck. Als er ihr auf die Füße half, sagte er: »Beginne mich zu fragen, ob Sie nicht wirklich Dias zeigen.«
»Dias!« fragte sie entgeistert. »Cyrus, was in aller Welt...?«
»Dieselbe Stimme«, sagte er. »Beide Male. War mir nicht klar über die Dias.«
Erstaunt starrte sie ihn an. »O Dias«, erwiderte sie, und sie bewunderte sein Gedächtnis.
In seiner fürsorglichen Art riet er ihr: »Versuchen Sie, Ihre Buschjacke um den Kopf zu wickeln. Nicht umsonst haben sie hier in Afrika Korkhelme getragen. Sehr intensive Sonne...« Er machte ihr um die Taille geknotetes Jackett los, und da sie es mit ihren gebundenen Händen nicht um den Kopf schlingen konnte, legte sie es lose über den Kopf. Dann eilte sie nach vorn, um Simons Befehl nachzukommen.
Und weiter ging die Wanderung. Immer wieder von Pausen unterbrochen. Sie war schon ganz vertraut mit dem afrikanischen Boden. Er war von einem kräftigen Rostbraun und hatte die grobkörnige Struktur eines Ameisenhügels. Und obwohl die Regenzeit erst kürzlich zu Ende gegangen war, schien er trocken, sehr trocken zu sein. Sie war glücklich, wenn sie auf ihm ausrasten konnte. Das Laufen auf der Erde war möglich, doch auf Schlangen mußte sie achten. So ging sie mit gesenktem Kopf, und das ermüdete sehr. Unentwegt stachen die Tse-Tse-Fliegen. Und wenn sie Pause machten, reichte der kümmerliche Schluck Wasser nicht mehr aus. Bei jedem Halt studierte Simon stirnrunzelnd Kompaß und Karte. Und dann wurde weitergegangen. Nur zweimal wurde die Eintönigkeit unterbrochen: einmal durch eine Herde Schwarzfersenantilopen, die in panischem Schrecken ihren Weg kreuzten, und einmal durch den Anblick eines toten Büffels, von dem nur noch das nackte Gerippe übriggeblieben war.
»Hat Löwe getötet«, sagte Reuben aus dem Hintergrund.
Einige Zeit danach bemerkte Mrs. Pollifax, daß Simon stehengeblieben war. Sie war hinter ihm her gestolpert, und als sie aufblickte, sah sie, daß Mainza aus der Reihe getreten war, Simon am Arm gepackt hatte und nach rückwärts deutete. »Etwas ist hinter uns her«, sagte er leise.
»Ich sehe nichts. Mensch oder Tier?«
Mainza zuckte die Achseln. »Es bewegt sich, wenn wir gehen, es steht still, wenn wir rasten. Soll ich zu dem Ameisenhaufen da vorn gehen und im Kreis zurück?«
»Mach das. Sei vorsichtig. Wir warten. Wir rasten hinter dem Hügel.«
Das Wort >rasten< war das einzige, was Mrs. Pollifax wichtig war. Und sie folgte Simon eifrig. Mainza verschwand bald hinter dem Hügel, und als die Gruppe ebenfalls dort ankam, hieß Simon sie dahinter stehenbleiben. »Hinsetzen«, befahl er, »aber nicht darauf, es ist ein Ameisenbau.«
Dankbar sank Mrs. Pollifax zu Boden. Sie konzentrierte sich auf die Rast. Ihre Schultern schmerzten, die Füße taten ihr weh, und ihre Augen fühlten sich an wie gequetschte Tomaten. Sie konnte kaum denken. Sie fühlte sich außerstande, sich zusammenzureißen. So ungefähr mußte es sein, wenn ein Mensch im Schnee einschläft, er bemerkt es und es macht ihm nichts aus. Bestimmt gab es keine ausreichende Rast mehr, bevor sie den Friedhof erreichten. Sollten sie dort ankommen, so konnte aus der ersehnten Ruhe leicht eine Ewige Ruhe werden. Aber auch dieser Gedanke half nicht. Ob sie vielleicht einen Sonnenstich hatte? Sie sah Simon und Reuben plötzlich ihre Gewehre heben, brachte aber nur ein mäßiges Interesse auf, als ein Mann, ohne die Gruppe zu bemerken, an ihnen vorbei trottete. Sie war dankbar, daß es kein Löwe war, aber in ihrer außergewöhnlichen Verfassung fand sie nichts dabei, hier einem Mann zu begegnen. Außerdem schien er hierher zu gehören, und sein Anblick war wenig anziehend. Es war ein Einheimischer in zerrissenen, am Knie abgeschnittenen schwarzen Hosen, zerlumpten Turnschuhen und einer leuchtendgrün und schwarz karierten Wollkappe, die ihm ein lächerliches Aussehen verlieh. Auf dem Rücken trug er einen in blutiges Zeitungspapier eingeschlagen Gegenstand, der offensichtlich schwer war und den eine Menge Fliegen umkreisten. Der Mann bemerkte sie erst, als Simon mit dem Gewehr vortrat. Er schien aber eher erstaunt als erschrocken. Er sah Simon mit einem unsicheren, aber strahlenden Lächeln an und starrte dann hingerissen auf die Waffe, die er offenbar erstaunlicher fand als den Anblick von fünf Menschen, die hinter einem Ameisenhügel hockten.
Mainza kam herbei, durchsuchte die Taschen des Mannes und roch an dem Bündel.
»Jonesi«, sagte der junge Mann strahlend und deutete auf sich selbst. »Jonesi. Guten Abend.«
»Guten Abend« erwiesen sich indessen als die einzigen Worte, die er außer seinem Eingeborenendialekt konnte. Man versuchte es mit Nyanja bei ihm, mit Luvale und Bemba, aber alles führte nur zu begeistertem Nicken und den Worten: »Jonesi. Guten Abend.«
»Hat wohl nicht alle Tassen im Schrank«, vermutete Cyrus trocken.
Mainza schlug eine Ecke des blutigen Bündels zurück und sagte anklagend: »Gewildert hat er, Simon. Er ist ein Wilderer und heiß Jonesi. Aber was machen wir mit ihm?«
»Mir gefällt er nicht«, sagte Amy kalt.
Simon blickte flüchtig zu ihr hinüber und sagte zu Reuben: »Er könnte uns den Friedhof finden helfen.«
»Ah«, sagte Mrs. Pollifax und wurde hellwach, »Sie wissen nicht, wo der Friedhof liegt?«
»Natürlich wissen wir das«, fuhr Simon sie an. »Nur diesen Weg sind wir bisher noch nie gegangen.«
»Dann haben Sie sich also verlaufen?« fragte Amy höhnisch. »Wie aufmerksam, daß Sie uns das wissen lassen, Simon.«
»Kann mir nicht vorstellen, wie dieser Jonesi uns helfen soll, wenn Sie sich nicht einmal mit ihm verständigen können«, meinte Cyrus.
Mainza war es gelungen, die Aufmerksamkeit des Wilderers auf sich zu lenken; es setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, begann mit einem Stock die Erde umzuwühlen und warf ein halbes Dutzend kleiner Erdhaufen auf. Er steckte einen Zweig in den einen, legte einen Knopf auf den anderen und ein Stoffetzchen auf einen dritten. Der Wilderer hockte neben ihm und sah zu. Plötzlich nickte er und sprudelte Worte hervor und deutete in südlicher Richtung. Dann nahm er den Stock und zeichnete den Umriß eines Tieres. Nach weiterer Zeichensprache sagte Mainza: »Er kennt den Friedhof. Er will uns hinbringen, wenn wir nichts von seiner Wilderei berichten. Er hat Antilopenfleisch in seinem Bündel.«
Bei diesen Worten kam Mrs. Pollifax ein Gedanke, den sie verfolgte, Schritt für Schritt vorgehend: Fleisch, Wildern... Aber natürlich, dachte sie, und ihr schwindelte: die Antilope war zerlegt worden, und wenn sie zerlegt worden war, dann mußte das Fleisch von den Knochen gelöst worden sein mit einem Messer.
Ihre Müdigkeit fiel von ihr ab wie ein alter Mantel, der schon zum Verschenken bestimmt war. Hoffnung, das war es, was ihr gefehlt hatte, und jetzt begann sie in ihren Adern zu kreisen wie Adrenalin. Ein Messer. Mit einem Messer konnten sie sich verteidigen und fliehen. Ein Messer würde ihre Hände befreien, und mit einem Messer waren sie ihren Gegnern nicht mehr hilflos ausgeliefert.
»Sie sehen aus«, sagte Cyrus, als sie aufgestanden waren, um weiterzugehen, »wie jemand, der soeben den Heiligen Gral gefunden hat.«