»Wundert mich nicht«, sagte er und half ihr beim Aufstehen. »Ein Spaziergang dürfte uns beiden guttun.«
»Ich danke Ihnen. Wissen Sie, ich kann nicht behaupten, daß ich mit großem Appetit gekommen bin«, erklärte sie ihm, als sie aus dem Restaurant in die Hotelhalle traten. »Die Ungewißheit den ganzen Vormittag über hat mich reizbar gemacht, und jetzt kann ich einfach nicht essen, wenn John Steeves - wenn er - und wenn auch noch Farrell geht... «
»Vollkommen verständlich«, sagte er.
Er steuerte sie durch eine große Anzahl von Menschen hindurch, die auf den Aufzug wartete, und sie mußten stehenbleiben, als sich die Türen eines herabkommenden Liftes öffneten und seine Passagiere in die Hotelhalle entließ. Die beiden warteten geduldig, bis sich der Stau aufgelöst hatte. Vor ihnen gingen zwei Männer: ein großer, der einen Turban trug sowie dicht hinter ihm ein kleiner, der Mrs. Pollifax durch seine aufrechte Haltung auffiel. Irgend etwas an seinem Gang kam ihr sehr bekannt vor, und sie grübelte, wo sie diesen Gang schon gesehen hatte. Dann wußte sie es. Natürlich - ein Pfau, der hinkt. Lächelnd sagte sie zu Cyrus, »Da vor uns geht Mr. Kleiber, Cyrus, wir wollen ihn einholen und ihn fragen...«
Als der Mann jedoch den Kopf wandte, und sie sein Gesicht sah, war es nicht Mr. Kleiber. Es war ein Schwarzer, der eine mit Gold eingefaßte Brille trug. Also konnte es Mr. Kleiber nicht sein, und doch war es Mr. Kleiber. Sie war voller Staunen, denn sie erkannte Nase und Stirn, nur fehlte der Kinnbart, und er ähnelte einem Sambier. Sie sah ihn durch die Glastür gehen und einem Taxi zuwinken. Atemlos sagte sie: »Cyrus, er ist Kleiber. Schnell!«
Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge.
»Taxi!« rief sie, als Kleiber wegfuhr. Ein zweites Taxi hielt, sie sprang hinein und stieß atemlos hervor: »Bitte - folgen Sie dem Wagen da!« Das Taxi schoß davon, als Cyrus gerade den Bordstein erreicht hatte. Durch das offene Fenster schrie Mrs. Pollifax ihm zu: »Rufen Sie Dundu zu Hilfe!«
15
Entgeistert starrte der so plötzlich seiner Lunchpartnerin beraubte Cyrus dem davonfahrenden Taxi nach. Vor einem Augenblick war Mrs. Pollifax noch an seiner Seite gewesen und nun schon nicht mehr. >Da vor uns geht Mr. Kleiber, Cyrus<, hatte er sie deutlich sagen hören, und als der Mann sich dann umgedreht hatte, zeigte sich ein schwarzes Sambiergesicht. Ganz offensichtlich war der Mann nicht Mr. Kleiber. Dann aber hatte Emily atemlos gerufen: >Es ist Kleiber. Schnell!< Und dann war sie mit der Schnelligkeit einer Gazelle ins Taxi gestiegen und hatte ihm nur noch etwas zugerufen wie Dundu und Hilfe.
Er ging in die Hotelhalle zurück, setzte sich und war erbittert über seine Reaktionslosigkeit. Er war sich im klaren, daß sechs Tage mit Emily Pollifax ihm hätten beweisen müssen, daß er jeden Augenblick auf Draht sein mußte. Dias nicht, dachte er, und dafür war er dankbar, statt dessen aber eine Frau, die plötzlich schrie und verschwand. Er war ärgerlich, nicht gleichzeitig mit ihr das Taxi erreicht zu haben.
Aber warum war sie denn nur in den Wagen gesprungen? Es mußte doch einen Grund haben. Was konnte Kleiber denn vorhaben in dieser Verkleidung? Wie war es möglich, auf einmal eine andere Gesichtsfarbe zu bekommen? Konnte man sich das spritzen, oder gab es dafür Pillen? Der Gedanke war absurd. Immerhin hatte Emily ihn für Kleiber gehalten. Vielleicht war sie überreizt, nachdem sie die Nachricht über Steeves gehört hatte. Nein, überreizt war Emily nicht. Auch als ihre Ermordung durch Simon und Amy so gut wie sicher gewesen war, hatte sie die Fassung nicht verloren. Gab es überhaupt etwas, was sie außer Fassung bringen konnte? Und da sie ja jetzt wußte, daß Steeves Aristoteles war, warum also...?
Er hing seinen Überlegungen nach, bis er einen kalten Schauder den Rücken hinunterrinnen und dann wieder hinaufsteigen fühlte, und als dieser am Nacken angelangt war, stand Cyrus auf und ging zur Rezeption hinüber. »Hören Sie«, sagte er, »ich möchte die Polizei anrufen.«
»Irgend etwas nicht in Ordnung, Sir?«
»Weiß nicht, aber ich möchte die Polizei anrufen.«
»Hier, Sir.« Der Angestellte führte ihn zu einem Privatbüro und deutete auf den Apparat. »Die Zentrale wird Sie verbinden.«
Einen Augenblick später hatte Cyrus mit der Aussprache eines Namens zu kämpfen, den er noch nie geschrieben gesehen und nur flüchtig gehört hatte. »Ein Leutnant Dundu Bonozzi«, sagte er. »Muß ihn unbedingt sofort sprechen.«
»Bedauere, Sir, er ist nicht da«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Es könnte sich um eine Sache von Leben und Tod handeln«, sagte Cyrus und fühlte sich bei diesem Satz reichlich unbehaglich.
»Er ist an der Moses-Msonthi-Schule, abkommandiert zu den Wachposten. Sie können eine Nachricht hinterlassen, für den Fall, daß er anruft.«
»Ja«, sagte Cyrus und fand diese Lösung sehr vernünftig. Aber wie sollte er denn nur seinen Verdacht formulieren? »Also versuchen wir es so. Sind Sie bereit?«
»Bereit, Sir.«
»Sind Sie sicher, daß Sie den richtigen Aristoteles haben? Kleiber verließ das Hotel als Schwarzer. Mrs. Pollifax ist hinter ihm her.«
»Eine sehr merkwürdige Nachricht, Sir.«
»Stimmt«, sagte Cyrus und fühlte sich in seiner Haut keineswegs wohl. »Sonst niemand anwesend, mit dem ich sprechen könnte?« Aber sobald er diese Frage gestellt hatte, wußte er, daß es sehr schwierig sein würde, einem Fremden die Verwandlung von Kleiber zu beschreiben. Nur Dundu würde das verstehen. »Lassen Sie«, sagte er. »Wie war doch wieder der Name der Schule? Und wo ist sie?«
»Die Moses-Msonthi-Schule, Sir, Manchinchistraße.«
»Gut, ich sehe mich dort nach ihm um.«
Er eilte zum Hoteleingang und konnte kein Taxi bekommen. Cyrus kochte vor Ärger, dachte flüchtig an seinen Blutdruck und sah auf seine Uhr. Es war zwanzig vor eins, und laut Farrell begannen die Einweihungsfeierlichkeiten um ein Uhr... Als endlich ein Taxi kam, war es dreiviertel eins. Er stieg ein und nannte den Namen der Schule.
»Oh ja, Sir«, sagte der Fahrer freudig. »Unser Präsident weiht heute die Schule ein. Sehr schöne Schule für Mädchen.«
»Ja... gut, tun Sie Ihr Bestes, bringen Sie mich so schnell wie möglich dorthin«, bat er, und dann versuchte er sich vorzustellen, was er denn tun sollte, wenn er dort ankäme. Vermutlich waren viele Menschen dort versammelt, denn es war ja ein großes Ereignis. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er Dundu suchen sollte oder ob auch Emily dort auftauchte. Vielleicht hatte sie inzwischen schon entdeckt, daß der Mann ein echter Sambier war. Besser nicht darüber nachdenken, und er begann tief zu atmen, um ruhig zu bleiben. Die Straßen waren verhältnismäßig leer, weil Sonntag war. Als sie sich aber der Manchinchistraße näherten, wurde der Verkehr stärker. Cyrus bezahlte den Fahrer einige Straßen vor der Schule und machte sich auf die Suche nach Dundu Bwanausi.
Mrs. Pollifax hockte auf der Kante ihres Sitzes, - behielt das vorausfahrende Taxi im Auge und gab dem Fahrer verschiedene Erklärungen, um ihn anzutreiben. »Er wird von der Polizei gesucht«, vertraute sie ihm an, weil sie das Gefühl hatte, daß irgendeine Erklärung nötig war. Sie wünschte, ihre Erklärung würde den Tatsachen entsprechen, und wünschte es zugleich auch wieder nicht. »Nicht zu dicht auffahren, wir dürfen nicht auffallen. Haben Sie eine Idee, wohin das Taxi fährt?«
»Wir sind ganz nah an der Manchinchistraße, Madam«, vielleicht will er bei der Schuleinweihung zusehen.«
Sie fragte: »Sie meinen die Moses-Msonthi-Schule?«
»Ja, Madam. Wir sind jetzt in der Manchinchistraße, und das Taxi vor uns fährt auf die Schule zu, sehen Sie? Jetzt hält es.«
Nervös begann sie in ihrer Geldtasche zu kramen. »Ich hoffe, dies ist genug«, sagte sie und schob ihm Kwachascheine zu, und als er am Bordstein hielt, sagte sie: »Würden Sie etwas Wichtiges für mich tun? Würden Sie die Polizei anrufen und sagen - sagen, Aristoteles sei vor der Msonthi-Schule? Aristoteles.«