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Die Tatsache, daß Detwiler einen Schatten auf sie angesetzt hatte, erfüllte sie mit Genugtuung und Zufriedenheit. »Sehr gut«, dachte sie. >Sie sind beunruhigt und wollen absolut sichergehen, daß ich tatsächlich die arglose Touristin bin, die etwas überspannte Präsidentin eines Blumenzüchtervereins, die sich mit dem Versprechen einer Brieffreundschaft nach Hause schicken läßt.« Sie konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Natürlich dachte Detwiler nicht im Traum daran, sein Versprechen einzulösen -das war ihr von Anfang an klargewesen... Und mit einem Male wurde ihr auch noch etwas anderes klar: Sheng Ti wurde gefangengehalten, und sein Gefängnis hieß >Feng-Imports<.

Als Mrs. Pollifax schließlich die Queen's Road Central erreichte, hatte sie sich geschworen, Feng-Imports nicht aus den Augen zu lassen - und wenn sie sich als chinesische Bäuerin verkleiden mußte, wie sie es in Turfan schon einmal getan hatte... Sie lächelte bei der Erinnerung an dieses Bravourstück. Zunächst jedoch durfte sie ihre Rolle als Touristin nicht vernachlässigen. Sie blieb stehen, zog den Stadtplan von Hongkong zu Rate und schlenderte dann die Queen's Road hinunter - entschlossen, ihren Verfolger so gründlich und so schnell wie möglich zu erschöpfen.

Stunden später war sie selbst am Rande der völligen Erschöpfung. Kilometer um Kilometer war sie zäh und verbissen kreuz und quer durch Hongkong marschiert, hatte für Cyrus eine seidene Krawatte gekauft, die sie genausogut zu Hause hätte kaufen können, hatte den Botanischen Garten und schließlich den Zoo von Hongkong bis in ihre letzten verschwiegenen Winkel durchstreift- alles um ihren Schatten abzuschütteln, doch der schien förmlich an ihren Fersen zu kleben. Am Ende ihres ausgedehnten Rundgangs durch den Zoo hatte sie im Vogelhaus einige Details über die Lebensgewohnheiten von Seetauchern, Reihern, Schwätzern und Gabelweihen, von denen sie annahm, sie würden Cyrus interessieren, in ihr Notizbuch gekritzelt. Dann war sie zur Peak Tramway gewankt, war glücklich, doch mit schmerzenden Füßen in die Gipfelbahn geklettert und hatte sich ganz dem Schauspiel hingegeben, das sich ihr bot, als die Bahn sie immer höher und höher über die Stadt emportrug, bis sie schließlich den Gipfel des Victoria Peak erreicht hatte.

Es war mittlerweile kurz vor sechs Uhr, und Mrs. Pollifax ließ sich auf einer Parkbank, 600 Meter über der Stadt, nieder und genoß den Blick auf Hongkong. Von hier oben erkannte man erst, wie unglaublich schmal der Streifen Land zwischen dem Berg und dem Meer war, auf dem sich die Häuser der Stadt drängten. Fast bis zum Horizont spannten sich die leuchtendblauen Wasser des Hafenbeckens, und die Fähren, die die schimmernde Wasserfläche durchkreuzten, sahen aus wie Wasserläufer auf einem kleinen Tümpel. Mrs. Pollifax befreite ihre schmerzenden Füße von den engen Schuhen und bewegte mit einem genüßlichen Seufzen ihre Zehen. Sie lehnte sich zurück, nahm ihren Hut ab und bot ihr erhitztes Gesicht der kühlen Brise dar, die vom Meer her wehte. Verstohlen blickte sie nach rechts und erkannte den Mann mit dem Diplomaten-köfferchen, der sich ebenfalls auf eine Bank sinken ließ. Nicht ohne Groll gestand sie sich, daß er sie offenbar besiegt hatte, doch ein zweiter flüchtiger Blick belehrte sie eines Besseren: Auch er beugte sich nach vorn, zog seine Schuhe aus und lehnte sich erschöpft wieder zurück. Mit einem Mal erschienen ihr ihre schmerzenden Füße nur mehr als ein kleines Opfer, das zu bringen sich gelohnt hatte, und der Hunger, den sie seit Stunden verspürte, war plötzlich gar nicht mehr so quälend. Zufrieden schloß sie die Augen, und widmete sich genießerisch der Vorstellung von einem köstlichen Dinner und einem langen, heißen Bad. Dann würde sie ihre Jogaübungen machen und konzentriert und in Ruhe über ihre nächsten Schritte nachdenken.

Sie öffnete träge die Augen, und ihr Blick fiel auf die Pakete, die sie den ganzen Nachmittag durch Hongkong geschleppt hatte: Cyrus' Krawatte und der Buddha aus Elfenbein. Einer plötzlichen Laune folgend öffnete sie das kleinere der Päckchen und hielt die Krawatte in das Licht der Sonne. Ob Cyrus dieser Blauton gefallen würde? Sie hegte mittlerweile ihre Zweifel. Sie legte die seidene Krawatte beiseite und griff nach dem Buddha, um die kunstvollen Elfenbeinschnitzerei noch einmal in Ruhe zu bewundern.

Sie streifte das Packpapier von der Statue und entdeckte zu ihrer Verblüffung ein kleines Stück Reispapier, das über eine Hand des Buddhas geklebt war. Sie riß das Papier ab, und in dem Augenblick, als sie es achtlos in den Wind werfen wollte, fiel ihr auf, daß das Papier mit winzigen Buchstaben beschrieben war. Sie hielt das Stück Reispapier näher an ihre Augen und las:

»Wenn Sie Sheng Ti sehen wollen, finden Sie ihn in einer Hütte im Hinterhof von Nummer 40, Dragon Alley... Nach zehn Uhr...«

4

Etwas verunsichert und ziemlich verwirrt schlüpfte Mrs. Pollifax in ihre Schuhe, und ohne einen weiteren Blick an die Schönheit der Landschaft zu verschwenden, strebte sie der Station der Gipfelbahn zu und nahm den nächsten Waggon zurück in die Stadt.

»Wie?« fragte sie sich ratlos. Und dann: »Wer?« Und schließlich: »Bei welcher Gelegenheit?«

Während der schwindelerregend steilen Fahrt zurück in die Stadt schweifte ihr Blick ziellos über die grünen Wipfel der Bäume und die Dächer der Villen, die sich unter ihr an die Flanken des Berges schmiegten. Ihre Gedanken waren bei Feng-Imports und versuchten, den Schauplatz und die Geschehnisse dort zu rekonstruieren. Mr. Detwiler hatte ihr den Buddha wieder aus der Hand genommen und ihn direkt vor ihren Augen Lotus gegeben. Es erschien ihr äußerst unwahrscheinlich, daß die Nachricht von ihm stammte; vor allem weil er sich geweigert hatte, ihr ein Treffen mit Sheng Ti zu ermöglichen. »Würden Sie das bitte Mr. Feng bringen. Er soll es für die Dame einpacken«, hatte Detwiler zu dem Mädchen gesagt, doch Mr. Feng hatte wohl kaum den Zettel auf die Hand des Buddhas geklebt, denn er hatte ihr gegenüber nicht einmal die Existenz Sheng Tis zugegeben.

Die Bahn fuhr in die Station ein, und Mrs. Pollifax überquerte die Garden Road und strebte hinkend dem Hong-kong-Hilton zu. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß allein das Mädchen den Zettel aus Reispapier an den Buddha geklebt haben konnte. Dies setzte jedoch voraus, daß sie die Unterhaltung mit Detwiler belauscht und jedes Wort, das im Hinterzimmer gesagt wurde, verstanden hatte.

An verschlossenen Türen zu lauschen schien bei Feng-Imports eine allgemein verbreitete Unart zu sein. Zuerst Detwiler und dann auch das Mädchen... Ob wohl Mr. Feng bei ihrem Gespräch mit Detwiler in irgendeiner Form ebenfalls mitgehört hatte?

Als Mrs. Pollifax endlich den in den Garden Road gelegenen Eingang zum Hilton erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal nach ihrem Verfolger um. Der Mann mit dem Diplomatenkoffer war noch immer hinter ihr, und nur mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, ihm zum Abschied zuzuwinken und ihm zu sagen, er könne sich jetzt in Ruhe seinem Abendessen widmen. Wie unendlich schade, daß sie sich diese freundschaftliche und verbindende Geste nicht erlauben durfte - schließlich hatten sie ja gemeinsam den ganzen Nachmittag verbracht, und seine Füße taten ihm sicherlich ebenso weh, wie ihr die ihren -, denn dies würde ihn sicherlich zutiefst frustrieren und möglicherweise auf den Gedanken bringen, daß sie doch nicht die arglose Touristin war, als die sie sich ausgegeben hatte. Sie nahm sich vor, um zehn Uhr, wenn sie das Hotel erneut verlassen würde, um Sheng Ti zu treffen, besonders vorsichtig zu sein. Er folgte ihr bis ins Untergeschoß des Hotels, durch die unterirdischen Ladenstraßen, in denen sich eine Boutique an die andere reihte und wo alles zu finden war, was der Tourist in Hongkong zu kaufen begehrt: Kameras, Uhren, Schmuck, Edelsteine, Teppiche und Kunstgegenstände. Obwohl Mrs. Pollifax nun ein beachtliches Tempo vorlegte, um endlich in ihr Zimmer zu kommen und ihre schmerzenden Füße zu pflegen, bemerkte sie im Vorbeigehen im Schaufenster einer Boutique eine Reihe von Buddhastatuen. Eine dieser Buddhafiguren war der, die Detwiler ihr geschenkt hatte, ziemlich ähnlich, und Mrs. Pollifax blieb stehen, um einen Blick auf die Statue und das Preisschild zu werfen. Sie war zwar ebenfalls aus Elfenbein, doch die Schnitzereien waren bei weitem nicht so kunstvoll und perfekt wie bei ihrem Buddha. Und der Preis - ungläubig trat sie noch einen Schritt näher und rechnete in Gedanken ein zweites Mal nach... Ihr stockte der Atem, denn umgerechnet kostete der Buddha im Fenster beinahe siebenhundert Dollar.