»Ich brauche schleunigst ein heißes Bad«, dachte sie voller Unbehagen, »denn allmählich geht mir der Fall an die Nieren. Detwiler, den Carstairs im Verdacht hat, ein Überläufer zu sein, schenkt mir einen Buddha, der ein paar hundert Dollar wert ist... Jedermann bei Feng-Imports versucht, ein Treffen mit Sheng Ti zu verhindern, und doch wird mir seine Adresse auf mysteriöse Weise zugespielt... Ich werde beschattet und weiß nicht weshalb... Das Geschenk kann ebensogut als Bestechung gedacht sein, und die Nachricht auf dem Reispapier könnte eine Falle sein...«
Mit ihrem Verfolger im Schlepptau stieg Mrs. Pollifax in den Aufzug, der sie nach oben, in die Hotelhalle beförderte. An der Rezeption holte sie ihren Zimmerschlüssel und wankte zurück zum Fahrstuhl. Ehe sich die Aufzugtür schloß, galt ihr letzter Blick ihrem ständigen Begleiter, der sich soeben erschöpft in einen der weichen und bequemen Sessel in der Lobby fallen ließ und dankbar die Beine von sich streckte.
Mrs. Pollifax genügten zweieinhalb Stunden, um wieder völlig auf dem Damm zu sein. Sie hatte sich - wie es einer Touristin zustand, die trotz eines anstrengenden Flugs den ganzen Tag durch Hongkong gebummelt war - das Essen auf das Zimmer bringen lassen, und nach einem erfrischenden Bad war sie bereit, sich in ihr nächtliches Abenteuer zu stürzen. Für den Abend verzichtete sie auf ihren Rosengarten und nahm mit einem dunklen Kopftuch vorlieb, das zu ihrer schwarzen Hose und der ausgeschnittenen Bluse paßte, die sie für den Ausflug angezogen hatte. Sie steckte den Stadtplan und eine Taschenlampe in ihre Handtasche, dann fuhr sie mit dem Aufzug bis in den zweiten Stock. Von dort nahm sie die Treppe, die in die Hotelhalle hinabführte. Da das Untergeschoß nur mit dem Aufzug zu erreichen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Stück durch die Halle zu gehen. Sie erreichte das Untergeschoß und schlenderte durch die Boutiquen, die noch immer geöffnet waren. Eine Weile blieb sie stehen und sah amüsiert zwei kichernden jungen Chinesinnen zu, die an einem elektronischen Meßgerät versuchten, ihren Blutdruck zu messen. Als sie schließlich sicher war, daß sie nicht verfolgt wurde, ging sie hinaus auf die Garden Road. Sie ging einige Blocks zu Fuß, ehe sie ein Taxi heranwinkte, das sie durch die von roten, goldenen und grellweißen Neonreklamen erhellten Straßen von Hongkong chauffierte.
Es war bereits zehn nach zehn, als sie über die Bank stolperte, auf der sie am Morgen gesessen hatte. Die Dragon Alley war beklemmend dunkel; nicht einmal der kleinste Streifen Licht fiel durch die verriegelten Fenster. Am Tor zum Hinterhof der Hausnummer 40 ließ sie kurz ihre Taschenlampe aufblitzen. Behutsam öffnete sie das Tor und schob sich durch den schmalen Spalt. Im Hof war es heller als auf der Straße. Aus dem Rückgebäude des angrenzenden Hauses, offenbar ein Nachtclub oder ähnliches, strömten Licht und laute Musik in den Hof.
Mrs. Pollifax konnte die Umrisse einer kleinen und niedrigen Hütte erkennen, die gegen die Seitenwand des Nachbargebäudes gebaut war. Auf einer Bank vor der Hütte entdeckte sie die schemenhafte, zierliche Gestalt eines Menschen. Mrs. Pollifax schlich sich vorsichtig näher.
»Oh!« Mit einem erstickten Schrei sprang die Gestalt auf. Es war Lotus. In dem matten diffusen Licht leuchtete ihr Gesicht wie durchscheinendes Porzellan.
»Also doch Sie!« flüsterte Mrs. Pollifax.
»Kommen Sie!« flüsterte Lotus zurück. »Hier sind wir nicht sicher! Scht... ganz leise, bitte.«
Sie folgte der zierlichen Gestalt, die in den dunklen Schatten der Mauer tauchte und auf die Rückfront des Gebäudes zustrebte, aus dem die Musik drang. Mrs. Pollifax hörte, wie vor ihr eine Tür geöffnet wurde, dann zog das Mädchen sie durch einen schmalen Korridor und öffnete eine Tür auf der linken Seite des Gangs. Sie traten in einen winzigen Raum, der nur von einer müde dahinglimmenden Öllampe auf einem windschiefen Tisch erleuchtet wurde. Am Tisch saß ein junger Mann, der nervös aufsprang, als er bemerkte, daß Lotus nicht alleine gekommen war. Es war Sheng Ti.
»Xiansbeng!« rief er aus. »Ich wollte es nicht glauben!«
Lachend ergriff Mrs. Pollifax seine ausgestreckte Hand. »Doch, doch - ich bin es, Sheng Ti! Eine gelungene Überraschung, nicht wahr? Wie schön, dich wiederzusehen!« Doch noch während sie ihn begrüßte, stellte sie bestürzt fest, wie sehr er sich verändert hatte. Sein hübsches, in ihrer Erinnerung so lebhaftes und strahlendes Gesicht war eingefallen und hager, und in seinen Augen lagen Trauer und Verzweiflung. »Und nun sag mir, Sheng Ti, weshalb will man verhindern, daß wir uns treffen?«
Sheng Ti antwortete mit einem unverständlichen Schwall chinesischer Worte. Hilfesuchend wandte sich Mrs. Pollifax an Lotus.
Das Mädchen legte ihre Hand beruhigend auf Sheng Tis Arm. »Setzen wir uns doch«, sagte sie mit einem Blick auf die drei Stühle, die um den kleinen Tisch gruppiert waren.
Mrs. Pollifax sah sich in dem winzigen Raum um. Das einzige Fenster war mit einer Decke verhangen, und das trübe Licht der Öllampe warf gespenstische Schatten an die Wände. Mrs. Pollifax konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, an einer verschwörerischen Zusammenkunft in einer Höhle in den Bergen Chinas teilzunehmen. Sie ließ sich auf einen der Stühle sinken und wiederholte die Frage: »Weshalb will man verhindern, daß wir uns treffen?«
Sheng Ti hielt erschreckt den Atem an. »Wenn die wüßten, daß wir uns hier treffen, dann... «
»Dann?«
»Dann würden sie uns umbringen!«
Mrs. Pollifax wandte sich erstaunt an Lotus. »Glauben Sie das auch?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen, ohne zu zögern. »In der Dragon Alley 31 stimmt etwas nicht. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten... nichts Ernsthaftes, bis ich mich öfters mit Sheng Ti unterhielt und wir Freunde wurden...«
»Wir lieben uns«, erklärte Sheng Ti.
Lotus wurde rot und lächelte schüchtern. »Ja - wir lieben uns. Es ist wunderschön, aber... Aber wir müssen uns heimlich treffen. Und jetzt weiß ich, was sie von ihm verlangen.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf.
»Was verlangen sie von ihm?« fragte Mrs. Pollifax. »Sagen Sie es mir, bitte. Es ist sehr wichtig!«
»Zuerst alles gut«, begann Sheng Ti stockend! »Ich kam hierher... vor Lampionfest...«
»Im September«, erklärte Lotus.
»Ja. Und alles sehr gut! Arbeit in Laden. Aber dann kurz vor Neujahr...« Er schüttelte erregt den Kopf. »Alles anders. Mr. Feng und Mr. Detwiler viel Streit. Ich höre sie - durch Tür. Und dann neue Arbeit für mich.« Offensichtlich frustriert von seinem Englisch wandte sich Sheng Ti an Lotus und sprach in Chinesisch auf sie ein.
»Er sagt, daß es ihm in Turfan nichts ausgemacht hat, zu stehlen«, übersetzte das Mädchen, »denn in China war das für ihn die einzige Möglichkeit, nicht zu verhungern. Aber er hatte geglaubt, hier in Hongkong könnte er zur Schule gehen und einen Beruf erlernen.«