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»Würdest du mir bitte Bescheid sagen, wenn wir die Boundary Street erreicht haben«, wandte sich Robin an Mrs. Pollifax, und über die Schulter fragte er: »Weiß die Polizei, daß Sie in Hongkong sind, Mr. Hitchens?«

»Keine Ahnung. Ich habe mit Alec nicht darüber gesprochen«, erwiderte Mr. Hitchens, und erneut in seine pedantische Art zurückfallend, fuhr er fort: »Die Zeit, die Alec und ich zusammen verbracht haben, könnte man in vier Phasen teilen. Erstens: Begrüßung. Zweitens: Die ersten Versuche, uns auf außersinnliche Ansätze zur Lösung des Falls zu konzentrieren, was etliche Stunden in Anspruch nahm. Drittens: Die Fahrt im Auto. Und schließlich viertens: Die Suche nach der Hütte, als wir die vorher bestimmte Gegend erreicht hatten.«

»Eine exakte und erschöpfende Auskunft«, bemerkte Robin matt.

»Hier ist die Boundary Street«, meldete sich Mrs. Pollifax zu Wort und schenkte Robin ein mitfühlendes Lächeln. »Heißt das, wir verlassen nun Kowloon?«

Robin nickte. »Mit Kurs auf die Neuen Territorien -und zwar nach Yuen Long. Hast du's auf der Karte?«

»Ja«, bestätigte Mrs. Pollifax.

Sie folgten der Küstenstraße, die sich zwischen steilen Bergflanken zur Rechten und blauen, mit Felseninseln übersäten Buchten zur Linken nach Süden wand. Bei Castle Peak Bay bogen sie nach Norden ab und befanden sich nach wenigen Kilometern inmitten der Reiskammer Hongkongs. »Wie schön es hier ist!« dachte Mrs. Pollifax begeistert, und ihre Augen konnten sich nicht satt sehen an dem üppigen, kräftigen Grün der Felder; ein Grün, das im Kontrast zu dem schwarzen Vulkangestein der Berghänge sanft und samten wirkte. Jeder Quadratmeter des fruchtbaren Landes war bebaut, und so weit das Auge reichte, erstreckte sich das Grün der gepflegten, in Quadraten oder Rechtecken angelegten Felder - nur hie und da unterbrochen von den niedrigen, weißgetünchten Häusern der Bauern. Zwischen den Feldern entdeckte Mrs. Pollifax immer wieder Ententeiche mit Scharen von leuchtendweißen Enten, die aussahen, als wären sie in einer Wäscherei gereinigt worden, ehe man sie in den Teichen aussetzte. Mrs. Pollifax fiel es schwer, sich vorzustellen, daß in einer derart bezaubernden Landschaft ein Gewaltverbrechen begangen worden war. Auch Mr. Hitchens schien seine Erlebnisse vom Tag zuvor vergessen zu haben, denn verzückt drehte er sich nach zwei Frauen am Straßenrand um, deren Gesichter unter mächtigen schwarzen, wie riesige Lampenschirme wirkenden Hüten verborgen waren.

»Haakafrauen«, erklärte Robin. »Sie leben seit Urzeiten im Gebiet von Hongkong.«

»Warum hab' ich nur meine Kamera nicht dabei!« klagte Mr. Hitchens, und völlig unvermittelt rief er: »Dort ist es! Dort drüben! Das Wasserrad.«

Robin trat auf die Bremse.

Nun entdeckte auch Mrs. Pollifax das hölzerne Wasserrad, das im Schatten eines kleinen Gehölzes inmitten der Felder, etwa vierhundert Meter von der Straße entfernt, Wasser aus einem Flüßchen schöpfte.

»Die Hütte liegt unter den Bäumen«, erklärte Mr. Hitchens. »Es gibt keine Straße durch die Felder. Wir müssen zu Fuß gehen.«

»Worauf warten wir also?« brummte Robin und stellte den Motor ab.

Sie stiegen aus dem Wagen, und Mrs. Pollifax musterte Mr. Hitchens mit besorgtem Blick. »Kopfschmerzen?« fragte sie besorgt, denn er war kreidebleich geworden.

»Nein, nein«, erwiderte er, »Ich bin nur etwas beunruhigt. Das ist alles.« Seine Lippen wurden schmal, »Ich bin schon in Ordnung.«

Im Gänsemarsch folgten sie einem schmalen Pfad, der in die Felder führte. Ohne die kühlende Brise vom Meer brannte die Sonne nun heiß vom Himmel. Sie sprachen nicht. Etwas von Mr. Hitchens' Unruhe hatte sich auch auf Mrs. Pollifax und Robin übertragen, und sie beschleunigten ihre Schritte. An dem Wasserrad angelangt, entdeckten sie eine roh gezimmerte Brücke aus Holzbohlen, die sich über das Flüßchen spannte. Mrs. Pollifax ging als erste hinüber und strebte, ohne zu zögern, auf das kleine Gehölz zu, in dessen Schatten sie jetzt die Umrisse der Hütte erkennen konnte.

»Ja«, sagte Mr. Hitchens unbehaglich, »hier war es.«

Die Hütte machte einen seltsam verlassenen Eindruck und schien irgendwie nicht hierher, zwischen all die gepflegten Felder zu passen. Die windschief in den Angeln hängende, schäbige Tür knarrte und ächzte, als Mrs. Pollifax sie auf stieß. In der Hütte herrschte zwielichtiges Dunkel. Sie war leer, so schien es auf den ersten Blick; doch als sich ihre Augen etwas an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte sie in einer Ecke die dunklen Umrisse einer zusammengesunkenen Gestalt.

Zögernd trat sie näher. »Oh, mein Gott!« flüsterte sie mit erstickter Stimme, als ihr klarwurde, daß dort ein Mensch lag.

»Schau nicht hin!« sagte Robin heiser, dicht hinter ihr. Er griff in sein Jackett und brachte eine Taschenlampe zum Vorschein.

Natürlich sah sie trotzdem hin, und in ihrem Kopf formten sich vage Gedanken über die Unfaßbarkeit des Todes. Man sollte ihm mit Ehrfurcht begegnen und nicht mit Entsetzen, wie es die Menschen gemeinhin tun; nur weil der Tod für den Menschen ein tiefes Geheimnis ist, das sich mit dem Verstand nicht fassen läßt. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf das Gesicht eines Chinesen mittleren Alters, dessen verwunderter Blick starr auf etwas gerichtet schien, das sie - als gewöhnliche Sterbliche - nicht zu erkennen vermochten. Er trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd, beides über und über mit Schmutz beschmiert. Oberhalb der linken Augenbraue war ein häßliches Einschußloch, an dessen Rändern graue Pulverspuren zu erkennen waren. In seiner rechten Hand lag ein Revolver.

»Es ist Inspektor Wi«, knurrte Robin erbittert und erhob sich. »Er ist tot.«

»Seit wann?« fragte Mr. Hitchens mit belegter Stimme.

Robin kniete sich neben den Toten und befühlte dessen Gesicht und Handgelenke. »Noch nicht allzu lange. Gestern war er noch am Leben. Sie hatten recht damit...«

»Leuchte doch mal auf seine Hand, Robin«, sagte Mrs. Pollifax. »Da ist etwas... Ein Stück Papier...« Sie beugte sich über die leblose Gestalt von Inspektor Wi und entwand aus den Fingern seiner linken Hand ein weißes Stück Papier. Sie hielt es in das Licht der Taschenlampe und las: »Ich bin verzweifelt. Man hält mich für schuldig.. .« Nachdenklich starrte Mrs. Pollifax auf den Zettel. »Klingt wie die Erklärung für einen Selbstmord«, stellte sie skeptisch fest. »Und das, nachdem er seit zwei Wochen vermißt wird!« Sie reichte den Zettel Robin.

Er betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln, und Mr. Hitchens warf über Robins Schulter hinweg ebenfalls ein Blick auf das unregelmäßig abgerissene Stück Papier. »Sehr unglaubwürdig«, murmelte er schließlich. »Ein Fetzen Papier mit einem angefangenen Satz, der an keine bestimmte Person gerichtet ist... Und ohne Unterschrift ... Sieht so aus, als hätte man ihm den Revolver in die Hand gedrückt, um es wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen.«

»Also Mord«, sagte Mrs. Pollifax und zuckte, erschreckt vom Klang ihrer eigenen Stimme, zusammen.

»Aber wenn es tatsächlich seine eigene Handschrift ist...«, gab Mr. Hitchens zu denken.

»Der Zettel könnte auch von einem Brief stammen oder aus einem Tagebuch herausgerissen worden sein«, erklärte Robin.

»Möglicherweise wurde er gar nicht hier umgebracht«, sagte Mrs. Pollifax und sah sich in der Hütte um. »Hier in der Hütte regt sich absolut kein Lüftchen. Wenn er erst vor ein paar Stunden erschossen wurde, müßte doch noch der Geruch von verbranntem Pulver zu riechen sein. Und schau dir mal den Boden an. Robin.«