Robin stieß einen leisen Pfiff aus. »Du hast recht. Die einzigen Fußspuren hier stammten von uns.«
Im Licht von Robins Taschenlampe untersuchten sie den Lehmboden der Hütte genauer. »Hier ist ihnen ein Fehler unterlaufen«, sagte Robin. »Entweder hat jemand nicht mitgedacht, oder die Mörder mußten überstürzt von hier verschwinden. Diese feinen Spuren hier stammen offensichtlich von einem Besen. Inspektor Wi muß an einem anderen Ort erschossen und dann hierhergebracht worden sein.«
Mr. Hitchens fröstelte. »Scheußliche Geschichte!« murmelte er leise.
»Ich frage mich nur, wie, um alles in der Welt, sie die Leiche unbemerkt hierherschaffen konnten«, dachte Mrs. Pollifax laut. »Aber im Schutze der Nacht ist wahrscheinlich alles möglich.« Sie wandte sich um und sah noch einmal auf die Leiche des Inspektors hinab. »Auch der Polizei wird auffallen, daß es keine Fußspuren gibt. Sollte es tatsächlich Selbstmord gewesen sein, hätte Inspektor Wi durch das Dach steigen müssen, um sich dann hier umzubringen. So etwas zu glauben ist einfach lächerlich.«
Robin zuckte skeptisch mit den Schultern. »Kommt ganz darauf an, wer die Untersuchung leitet. Inspektor Wi mißtraute vielleicht nicht umsonst einigen Leuten bei der Polizei. Will sagen: Es hängt wahrscheinlich davon ab, wem daran gelegen ist, Wis Tod als Selbstmord darzustellen.«
Mrs. Pollifax nickte entschlossen. »Da du für Interpol arbeitest, muß ich es wohl tun.« Sie kniete sich neben der Leiche nieder und löste mit einiger Anstrengung den Revolver aus den bereits starr werdenden Fingern. »Eine Beretta, neun Millimeter, Luger«, erklärte sie und ließ die Waffe in ihre Handtasche gleiten. Dann griff sie nach dem Stück Papier, das Robin noch immer zwischen zwei Fingern hielt, und ließ es ebenfalls in ihrer Handtasche verschwinden. »So«, sagte sie resolut. »Nun wird keiner mehr behaupten können, daß es sich hier um etwas anderes als kaltblütigen Mord handelt.«
»Braves Mädchen«, sagte Robin, und die Genugtuung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Fassungslos hatte Mr. Hitchens Mrs. Pollifax' Tun beobachtet. »Sie... Sie...«, krächzte er verblüfft. »Sie verändern einfach alles!? Aber Sie haben richtig daran getan! Ich fühle das. Ich hatte Angst... ich war ganz krank vor Angst, sobald ich die Hütte wieder erkannte... Aber wo nur Alec sein könnte...?« Seine Stimme klang erstickt vor Sorge.
»Was mir Sorgen bereitet«, sagte Robin, »ist die Tatsache, daß uns irgend jemand anscheinend immer einen Schritt voraus ist. Irgend jemand wußte, daß Sie heute morgen hierher zurückkommen würden, Mr. Hitchens, und er nutzte die Gelegenheit, Inspektor Wis Leiche herzubringen und seinen Tod wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen.«
»Was schlagen Sie also vor?« fragte Mr. Hitchens verunsichert.
»Daß Sie - wie erwartet - die Leiche finden und es der Polizei melden.« Robin nickte zufrieden. »Ja. Ich glaube, das ist der Zeitpunkt, an dem Sie an die Öffentlichkeit treten, Mr. Hitchens. >AMERIKANI SCHER PSYCHOLOGE ENTDECKT VERMISSTEN POLIZEIINSPEKTOR< - oder etwas in dieser Art. Sie sollten nur Mrs. Pollifax und mich aus dem Spiel lassen. Erzählen Sie einfach, daß Sie in ihrem Hotelzimmer erwachten - nachdem Sie gestern abend niedergeschlagen wurden. Sie kehrten heute morgen wieder hierher zurück, um nach Alec zu suchen... Mich haben Sie noch nie gesehen.«
Mr. Hitchens nickte, und der Ausdruck jungenhafter Abenteuerlust trat wieder in sein Gesicht. »Ja - gut. Das werde ich tun.«
Mrs. Pollifax bedachte Robin mit einem nachdenklichen Blick. »Wie ich dich kenne«, sagte sie, »hast du dir für uns etwas ganz Besonderes ausgedacht - könnte ich mir vorstellen.«
»Darauf kannst du wetten«, grinste er. »Aber zunächst werde ich unsere Fußspuren verwischen. Ich denke, es müßte genügen, wenn ich meine Jacke dafür hernehme - obwohl mich mein Schneider steinigen würde, wenn er das wüßte. Nachdem Mr. Hitchens seine Fußabdrücke hinterlassen hat, gehen wir gemeinsam zum Wagen zurück und bringen Mr. Hitchens zu einem Telefon. Dann ist er ganz alleine auf sich gestellt.«
»Und wie ist er hierhergekommen?« warf Mrs. Pollifax ein.
»Mit dem Taxi«, erwiderte Robin, drängte Mr. Hitchens und Mrs. Pollifax aus der Hütte und zog seine Jacke aus.
»Mit dem Taxi«, murmelte Mr. Hitchens. »Ich habe Sie noch nie gesehen... Ich bin ganz alleine mit dem Taxi zurückgekommen...«
»Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Hitchens«, sagte Robin, als er in der Tür auftauchte und seine Jacke ausschüttelte. »Gehen Sie einfach hinein, tun Sie, als würden Sie die Leiche entdecken, laufen Sie etwas hin und her, und kommen Sie wieder heraus.«
Folgsam betrat Mr. Hitchens die Hütte und kam nach einer Weile wieder ins Sonnenlicht heraus - noch immer »Taxi... Habe Sie noch nie gesehen...« vor sich hinmurmelnd. Sie machten sich auf den Weg zurück zum Wagen, doch Mrs. Pollifax blieb noch einen Augenblick an der Schwelle der Hütte stehen und warf einen letzten Blick auf den zusammengesunkenen Körper von Inspektor Wi.
»Gott gebe seiner Seele Frieden«, flüsterte sie und versprach im stillen, alles zu tun, um den Mörder des Inspektors zu entlarven und seinen Sohn wiederzufinden.
Sie setzten Mr. Hitchens in Yuen Long ab, und sogleich benutzte dieser die Gelegenheit, seine neue Rolle zu üben: Laut und vernehmlich bedankte er sich für ihre Freundlichkeit, ihn unterwegs mitgenommen zu haben, und mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Aber Sie werden sich doch ganz bestimmt um Alec kümmern?«
»Natürlich«, versprach Robin. »Sie können sich darauf verlassen, Mr. Hitchens. Nur ist es besser, wenn Sie nicht wissen, wie und wo, denn Sie könnten sonst unter Umständen zuviel erzählen.«
Robin legte bereits den Gang ein, doch Mrs. Pollifax steckte den Kopf durch das offene Wagenfenster und rief: »Melden Sie sich, Mr. Hitchens! Zimmer 614!« Und während sie das Fenster hochdrehte, sah sie noch einmal zurück. Mr. Hitchens stand verloren am Straßenrand neben einem Stand, auf dem frisches Gemüse aufgetürmt war, und sah nicht gerade glücklich drein. »Mein Gott!« seufzte Mrs. Pollifax. »Er sieht wirklich ratlos und verlassen aus - wie er so da steht.«
»Mach dir keine Sorgen um ihn«, sagte Robin. »Bald wird er von Polizei und Reportern umlagert sein. Er wird für die Schlagzeilen in der Kronkolonie sorgen.«
»Und was werden wir jetzt tun?«
»Wir?« fragte Robin und grinste breit. »Wir werden in Wis Haus einsteigen.«
Sie lachte. »So einfach klingt das, wenn man mit einem Einbrecher zusammenarbeitet. Aber besteht nicht die Gefahr, daß Leute im Haus sind?«
»Inspektor Wi und Alec lebten allein«, erwiderte Robin. »Seine Frau ist schon gestorben, die ältere Tochter ist verheiratet und lebt jetzt in Bangkok. Die jüngere Tochter ist in einem Internat irgendwo in England. Alec wohnte im Haus seines Vaters, weil er gerade das College abgeschlossen hat und sich nach einem Job umsieht. Das Haus liegt ziemlich einsam, am Ende der Lion Road in Kowloon. Es ist wichtig, noch vor der Polizei dort zu sein.« Mrs. Pollifax nickte. »Hoffentlich gehen wir das Risiko nicht völlig umsonst ein. Hoffentlich finden wir irgendeinen Hinweis auf den Fall, den Alec übersehen hat... Warst du schon einmal dort?«
»Nur an der Haustür«, antwortete Robin. »Zweimal bereits -aber niemand war zu Hause. Wenn ich mich nicht irre, ist das Haus von dichten Büschen und Hecken umgeben, die neugierigen Leuten, wie wir es sind, Deckung gewähren. Du solltest übrigens deinen prachtvollen Hut wieder aufsetzen, meine liebe Mrs. Pollifax. Er wird uns einen Hauch von Biederkeit und Ehrbarkeit verleihen, denn kein Einbrecher der Welt würde es wagen, mit einem derartigen Hut irgendwo einzusteigen - das kannst du mir glauben.«