Hongkong... In Hongkong schien die Sonne, erinnerte sie sich. Eine strahlende Sonne...
»Erinnern Sie sich an Sheng Ti?« fragte Bishop.
Natürlich erinnerte sie sich an Sheng Ti. Es war erst ein paar Monate her, daß sie mit ihm unter einem Lüftungsschacht in einer chinesischen Stadt mit dem Namen Turfan gesessen und von ihm erfahren hatte, daß er hai fen war; eine Person, die ohne Papiere und Identität und ohne ein Zuhause in China lebte, und sie hatte ihren Co-Agenten überredet, ihn zusammen mit Wang Shen, der eigentlichen Hauptperson ihrer damaligen Mission, außer Landes zu schmuggeln.
Sie nickte. »Natürlich erinnere ich mich an Sheng Ti... Ein sehr intelligenter junger Mann, dessen Talente als Ausgestoßener oder Gassenlümmel, wie sie diese Jungens in China nennen, absolut vergeudet waren.«
»Sie wissen, daß er sich jetzt in Hongkong aufhält?«
»Sie haben es bei unserer Hochzeit erwähnt. Ich hatte den Eindruck«, fügte sie spitz hinzu, »daß Sie ihn in Hongkong einfach sitzenließen, weil Sie nicht wußten, was Sie sonst mit ihm anfangen sollten.«
»Niemand konnte schließlich mit Ihrer Großzügigkeit rechnen«, erwiderte Bishop ungerührt. »Wir hatten zwei Männer erwartet, die über die Berge nach Kaschmir kommen würden - und nicht drei. Außerdem haben wir ihn in Hongkong nicht einfach sitzenlassen, wie Sie es ausdrücken; wir haben ihn ganz bewußt dorthin placiert. Bei einem unserer Agenten.«
»Oh!« machte sie.
»So ist es. Und um es kurz zu machen, meine liebe Mrs. Pollifax - denn die Zeiger der Uhr hinter Ihnen rücken unaufhaltsam weiter -, wir sind in großer, in sehr großer Sorge wegen dieses Agenten. Und Ihr Freund Sheng Ti ist der einzige, der in der Lage ist, uns einige Informationen zu liefern.«
»Was könnte er schon wissen?« fragte sie skeptisch.
»Er arbeitet für unseren Mann. Er ist an Ort und Stelle und -wie wir von unseren Leuten in Hongkong wissen -ständig anwesend. Der Name unseres Agenten ist Detwiler. Er ist Eurasier. Als Deckadresse benutzt er eine Export-Import-Firma für Diaman-ten und andere Edelsteine. Der alte Feng leitet den Laden. Detwiler ist für den Import zuständig, und Sheng Ti ist einer der beiden Angestellten.«
»Und Detwiler bereitet Ihnen Kopfzerbrechen?«
»Mehr als ich zu sagen imstande bin«, erwiderte Bishop. »Der Mann weiß zu viel; er hat eine Menge anzubieten. In seinem letzten Bericht ist er zu weit gegangen: Die Informationen, die er ans Ministerium sandte, waren in einer derart eklatanten Weise gefälscht, daß wir uns veranlaßt sahen, auch seine früheren Berichte zu überprüfen. Wir stellten fest, daß er uns seit etwa zwei Monaten getürkte Informationen liefert. Kurz gesagt: irgend etwas läuft eindeutig schief in Hongkong. Er hintergeht uns, und der Verdacht liegt nahe, daß es sich dabei um eine eigennützige und überaus suspekte Aktion Detwilers handelt, die unseren Interessen nur schaden kann. Mit Sicherheit ist er für uns nicht mehr zu gebrauchen, und wir sind entschlossen herauszufinden aus welchem Grund. Wir müssen wissen, für wen er nun arbeitet, welche Art von Informationen er anderweitig verkauft und, was zum Teufel, überhaupt vor sich geht in Hongkong. Überdies«, fügte er hinzu, »hat jemand Ihrem Freund Sheng Ti eine höllische Angst eingejagt.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte sie erschrocken.
»Weshalb, glauben Sie, brauchen wir gerade Sie so dringend?« entgegnete er. »Weil wir nämlich bereits zwei unserer Leute zu Feng-Imports geschickt haben, die versuchen sollten, sich Sheng Ti zu nähern - nettes Gespräch, Einladung zu einem Bier, ins Kino, Mädchen... Keine Chance! Die Einschätzung der Situation lautet immer gleich: >Dem Jungen sitzt die Angst im Nacken. Er befindet sich in Panik. < Was -wie ich betonen möchte - unseren Verdacht, daß bei Feng-Imports etwas nicht in Ordnung ist, nur bestätigt.«
»Und Sie glauben, Sheng Ti würde mit mir reden?«
Bishop nickte. »Er kennt Sie. Schließlich hat er es nur Ihnen zu verdanken, daß er aus Turfan und aus China herausgeschmuggelt wurde. Er vertraut Ihnen. Sie sind für ihn ein bekanntes Gesicht.« Erneut warf er einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Das ist natürlich nicht alles, doch so sieht im großen und ganzen die Situation aus. Sie sind der einzige Mensch, der an Sheng Ti herankommen kann, und wir brauchen die Informationen, die er uns geben kann. Wir müssen wissen, was bei Feng-Imports vor sich geht.«
»Ich verstehe«, nickte Mrs. Pollifax.
Bishop bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Schließlich sagte er: »Es kann natürlich auch gefährlich werden. Das ist nicht auszuschließen, vor allem wenn Sie nicht sogleich mit Sheng Ti Kontakt aufnehmen können und zu auffällig bei Feng-Imports herumschnüffeln.«
Mrs. Pollifax nickte und überdachte seine Worte noch einmal. Dann erhob sie sich und trug die Kaffeekanne in die Küche. » Es ist jetzt fünfundzwanzig nach elf«, rief sie durch die offene Tür. »Wenn Sie inzwischen die Tassen und die Kanne ausspülen... «
»Sie nehmen also an?« rief Bishop erfreut.
Sie kam lächelnd ins Zimmer zurück. »In Hongkong regnet es wenigstens nicht - oder? Ja, ich komme mit. Wenn Sie mich jetzt für einen Augenblick entschuldigen...« Sie eilte die Treppe empor, holte ihren Koffer vom Schrank und warf ein paar leichte Hosen, Rock und Blusen, ihre Zahnbürste, ein Paar bequeme Schuhe und ihren Pyjama hinein. Den Paß steckte sie in ihre Handtasche und schlüpfte in einen purpurroten wollenen Anzug, wählte eine rosarote Hemdbluse und entschied sich schließlich für einen Hut, der einem Garten mit roten und rosaroten Rosen nicht unähnlich war. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch und griff nach einem Stift, um Cyrus ein paar hastige Zeilen zu schreiben. Alles kam so unerwartet. Bishop ist hier und hoffte, auch Dich anzutreffen. In fünfzehn Minuten bin ich unterwegs nach Hongkong.
Ich rufe Dich an oder Du mich. Bin zu erreichen... »Bishop!« rief sie. »Wo werde ich wohnen und wie lange?«
»Ungefähr eine Woche«, rief Bishop zurück. »Wir haben für Sie im Hongkong-Hilton reserviert.«
...im Hongkong-Hilton. Zurück in einer Woche. Vergiß nicht, wie lieb Du mir bist! Love, love, love, Emily.
Sie überflog es noch einmal und setzte ein PS darunter: Laß es ja nicht zu, daß Mr. Lupalak das Rundfenster in die Mitte setzt! Dann hielt sie einen Augenblick inne und stellte sich vor, wie Cyrus wohl reagieren würde, wenn er die Nachricht las und feststellen mußte, daß sie ausgeflogen war. Sie hatte Cyrus versprochen, ohne ihn nie mehr für Carstairs zu arbeiten; andererseits hatte Cyrus darauf bestanden, daß sie - allein um ihm einen Gefallen zu tun - keinen Auftrag ablehnen würde.
»Ich möchte dich nicht einsperren. Liebes«, hatte er gesagt. »Zu viele Jahre habe ich auf jemanden wie dich gewartet, der voller Überraschungen steckt und mit dem das Zusammenleben nie langweilig wird. Es gibt nichts an dir, das ich verändern möchte.«
Lieber Cyrus, dachte sie zärtlich. Welch großes Glück sie gehabt hatte, ihm damals in Sambia zu begegnen. Er war mit seiner Tochter Lisa unterwegs gewesen, und sie selbst hatte einen flüchtenden Mörder verfolgt. Cyrus hatte ihr das Leben gerettet, und kurz darauf sie ihm ebenfalls - eine Basis, auf der sich eine herzliche Freundschaft entwickelte. Doch Cyrus ließ von Beginn an keinen Zweifel aufkommen, daß er mehr wollte als nur ihre Freundschart.
In ihre Gedanken an Cyrus drängte sich Bischops Bemerkung, daß der Auftrag auch gefährlich werden könne. Natürlich war dies niemals ganz auszuschließen, dessen war sie sich bewußt. Der Auftrag, Sheng Ti zu finden und mit ihm zu sprechen, schien auf den ersten Blick alles andere als ein gefährliches Unterfangen, doch dasselbe war im Jahr zuvor, bei ihrer Reise nach China der Fall gewesen - denn niemand hatte voraussehen können, daß auch der KGB in die Angelegenheit verwickelt war, und Carstairs hatte weder mit Mord, einem durchgehenden Gaul, einem gebrochenen Handgelenk, noch mit den langwierigen Verhören, die sie vor der chinesischen Geheimpolizei bestehen mußte, gerechnet. Es war jedoch alles gut ausgegangen damals: Ihr Handgelenk war sehr gut verheilt, Wang Sheng war sicher über die Berge gebracht worden, und sie war mit dem Bewußtsein aus dem Abenteuer hervorgegangen, daß Cyrus Reed für ihre Zukunft von absolut zentraler Bedeutung war und nicht länger auf die lange Bank geschoben werden durfte.