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Als sie fast das Ende der Lion Rock Road erreicht hatten, und Robin ihr im Vorbeifahren das Ziel ihrer Unternehmung zeigte, mußte Mrs. Pollifax zugeben, daß er recht behalten hatte: Das Haus lag hinter üppig wuchernden Büschen und Bäumen und einer zwei Meter hohen Mauer versteckt. Von der Straße war lediglich ein Teil des roten Ziegeldachs zu erkennen, das zwischen Baumkronen - unter anderem einer in voller Blüte stehenden Mimose - hervorlugte. Robin parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mit der Selbstverständlichkeit von Leuten, die jedes Recht auf einen Besuch in dem Haus von Inspektor Wi hatten, steuerten sie geradewegs auf das Eingangstor in der Mauer zu. Vier Minuten später - unter Zuhilfenahme von Robins vorher sorgfältig ausgewählten Einbruchswerkzeugen - standen sie in der Diele des Hauses.

Im Haus herrschte ein schattiges Halbdunkel. Durch die herabgelassenen Bambusrollos vor den Fenstern sickerten nur schmale Streifen des Sonnenlichts auf die Fliesen des Fußbodens. Im Erdgeschoß des Hauses lag das Wohnzimmer, ein Eßzimmer, eine kleine Küche und eine überdachte Veranda, die in den Garten hinausführte. Für Mrs. Pollifax sah das Haus nicht anders aus, als ein typisches Vorstadthaus in irgendeiner Stadt Amerikas - mit einer Ausnahme allerdings: In einer Nische im Wohnzimmer entdeckten sie eine mächtige, vergoldete Buddhastatue, die mit einer heiteren Gelassenheit auf sie und ihre profanen Bemühungen, gegen Egoismus, Habgier und Verblendung anzukämpfen, herablächelte. »Ich weiß« dachte Mrs. Pollifax lächelnd: »Es ist der Heilige Achtgliedrige Weg.«

»Laß uns nach oben gehen«, drängte Robin ungeduldig. »Wir suchen das Arbeitszimmer, einen Schreibtisch oder einen Safe.«

Sie fanden Inspektor Wis Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses und blieben wie erstarrt vor dem Chaos stehen, das sich ihren Blicken bot: Der metallene Aktenschrank in der Ecke war offenbar mit einem Vorschlaghammer aufgebrochen worden, und der Inhalt des Schreibtischs lag über das ganze Zimmer verstreut.

»Das habe ich befürchtet«, knurrte Robin. »Nachdem Alec aus dem Weg geräumt war, hatten sie hier leichtes Spiel.«

»Sie?« wiederholte Mrs. Pollifax gedankenverloren, und es schien ihr, als fühlte sie körperlich die Gegenwart der Männer, die dieses Zimmer verwüstet hatten. »Wer immer das hier getan hat«, sagte sie leise, »hatte es offenbar sehr eilig. Wahrscheinlich haben sie bei dieser Gelegenheit auch das Stück Papier gefunden, das als Inspektor Wis Abschiedsbrief dienen sollte. Wonach suchen wir eigentlich?«

»Irgendeine handschriftliche oder mit der Maschine getippte Notiz, die uns weiterhelfen könnte. Und wir haben auch nicht viel mehr Zeit als unsere Vorgänger«, brummte Robin. »Übernimm du den Schreibtisch; ich werde mich um den Fußboden und um die beiden Aktenschränke kümmern.«

»Also auf zur Schatzsuche!« sagte Mrs. Pollifax und setzte sich an den Schreibtisch. Methodisch durchsuchte sie die Schubladen. Viel war nicht mehr in ihnen, denn das meiste lag auf dem Boden verstreut. Außer einem Tintenfaß, einem Abakus, einem Fotoalbum, ein paar Bleistiften, losen Fotos und einem dicken Stapel Schreibmaschinenpapier war der Schreibtisch leer.

»Nichts!« knurrte Robin ärgerlich und warf die letzte Schublade des intakten Aktenschranks zu. »Sie haben bereits alles, das von Interesse sein könnte, verschwin|den lassen, verdammt noch mal! Und hier auf dem Boden liegen nur Rechnungen rum.«

Mrs. Pollifax hatte inzwischen den Stoß Schreibmaschinenpapier aus der Schublade genommen. Sie faßte ihn an einer Ecke und schüttelte den Stapel heftig hin und her, um zu sehen, ob nicht irgend etwas dazwischen steckte. Ein Stück abgerissenes Zeitungspapier flatterte zu Boden. Sie ließ den Stapel auf den Schreibtisch fallen und beugte sich nach dem Fetzen Papier.

»Ach du mein Schreck!« rief sie überrascht.

Mit einem Satz war Robin neben ihr. »Was ist?« fragte er atemlos. »Ach du meine Fresse!« brummte er, als er ihren Fund besah.

Es war das Foto eines Mannes, das aus einer Zeitung herausgerissen worden war. Dies mußte schon vor längerer Zeit geschehen sein, denn das Papier war bereits stark angegilbt. Am oberen Rand des Ausschnitts hatte jemand - zweifellos Damien Wi - ärgerlich das Wort >WANN?< hingekritzelt. Der Mann auf dem Foto blickte direkt in die Kamera, wie das bei Gefängnisfotos immer der Fall ist, und quer über seine Brust trug er ein Schild mit einer Gefangenennummer. Ein Name war nirgends zu entdecken. Das Gesicht des Mannes wirkte wie versteinert, und jede Linie in ihm war durch die grellen Scheinwerfer deutlich hervorgehoben. Nur das Foto war aus der Zeitung gerissen worden - ohne einen erklärenden Text oder einen Hinweis auf die Identität des Mannes. Doch Mrs. Pollifax hatte ihn sofort wiedererkannt. »Robin«, sagte sie. »Ich kenne diesen Mann. Aber wie, zum Kuckuck, kommt er in Inspektor Wis Schreibtisch?«

Robin bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Du willst sagen, du weißt, wer das ist?!«

Mrs. Pollifax schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Das heißt, ich weiß nicht, wie er heißt, aber er läuft mir ständig über den Weg.«

»Was?!« zischte Robin und packte sie am Arm. Seine Stimme klang heiser und eindringlich. »Was heißt das:

>Er läuft mir ständig über den Weg?< Wo? Verdammt noch mal... Wo?!«

Sie starrte ihn verwirrt an. »Na ja - er war in derselben Maschine, mit der ich von San Francisco nach Hongkong geflogen bin. Und gestern bin ich ihm in der Dragon Alley begegnet, als ich vor Feng-Imports auf den jungen Mann gewartet habe, mit dem ich Kontakt aufnehmen soll.«

»Maschine...? Feng-Imports...?« fragte Robin mit erstickter Stimme. »Mrs. Pollifax, ich denke, es ist allmählich an der Zeit, daß du mir anvertraust, welchen Auftrag du hier in Hongkong hast. Das Foto hier... Der auf dem Foto ist Eric der Rote!«

Ein eiskalter Schauer lief Mrs. Pollifax über den Rücken. »Der Terrorist? Der Kopf der Gruppe >Befreiungsfront 8o<? Der Mordanschlag in Kairo? Die Geiselnahme in Frankreich?« Mrs. Pollifax' Schreck wandelte sich in Entsetzen, als sie sich die näheren Umstände dieser Geiselaffäre wieder ins Gedächtnis rief: Die endlos-quälenden Tage der Ungewißheit, die Fehleinschätzungen der Situation durch die Behörden, die die Flucht der Kommandoeinheit der >Befreiungsfront 8o< ermöglichte und das blutige Massaker, das die Terroristen anrichteten...

»Laß uns von hier verschwinden!« drängte Robin nervös. »Wir müssen in Ruhe reden! Wenn Eric der Rote in Hongkong ist, dann... «

Er brauchte gar nicht zu Ende zu reden, denn Mrs. Pollifax warf bereits in fliegender Hast die Schubladen des Schreib-tischs zu und griff nach ihrer Handtasche. Wortlos stürmten sie die Treppe hinab und aus dem Haus. Sie erreichten den Wagen gerade noch rechtzeitig, denn kaum war Robin losgefahren, bog aus einer Seitenstraße ein Streifenwagen der Polizei in die Lion Rock Road.

Sie passierten den Polizeiwagen, und als sie ein Stück die Straße hinabgefahren waren, sah sich Mrs. Pollifax vorsichtig um. Der Streifenwagen war vor dem Haus Damien Wis stehengeblieben; was nur bedeuten konnte, daß der Tod des Inspektors nun offiziell bekannt war.

7

Robin fuhr schnell und in Richtung des Tunnels: den einzigen Weg zurück nach Hongkong. Er schien in Gedanken weit weg zu sein, und auf seinem Gesicht lag grimmige Entschlossenheit. Offenbar zerbrach er sich den Kopf darüber, was Eric der Rote in Hongkong vorhaben mochte. Mrs. Pollifax war dankbar für das Schweigen, denn sie versuchte ihrerseits zu verstehen, aus welchem Grund ein international bekannter und gefährlicher Terrorist - kaum in Hongkong angekommen - sofort Feng-Imports aufgesucht hatte... Feng-Imports, dessen Geschäftsführer Mr. Detwiler unter Verdacht stand, Carstairs gefälschte Informationen zu schicken, wo man ihr verwehrt hatte, Sheng Ti zu sehen, wo man ihr als Trostpflaster eine wertvolle Buddhastatue geschenkt und sie anschließend beschattet hatte.