»Anscheinend - denn als ich ihn sah, hatte er noch sein Gepäck bei sich.«
»Wenn das stimmt«, murmelte Marko nachdenklich, »dann ändert das alles - alles! Wir wissen jetzt, was... Aber erzählen Sie doch bitte von diesem Feng-Imports. Weshalb haben Sie diesen Laden beobachtet?«
Mrs. Pollifax holte tief Atem und berichtete, aus welchem Grund und mit welchem Auftrag sie nach Hongkong gekommen war. Sie erwähnte Carstairs' Beunruhigung in bezug auf Detwiler, erzählte die Geschichte, wie sie Sheng Ti kennengelernt hatte, und weshalb er wichtig war. Sie beschrieb ihren Besuch bei Feng-Imports, das Gespräch mit Detwiler und erwähnte, daß sie danach beschattet wurde. Schließlich verschwieg sie auch nicht ihr Treffen mit Lotus und dem völlig verängstigten Sheng Ti.
»Elf Pässe!« brummte Robin. »Und einer davon war ganz sicher ein kanadischer?« Mrs. Pollifax nickte. »Und Sheng Ti und Lotus werden heute abend mit dir Kontakt aufnehmen?«
»Ja - zumindest nehme ich das an. Falls nichts dazwischenkommt.«
Robin und Marko wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Ich denke, wir sollten uns diesen Laden unbedingt mal ansehen - und zwar sofort«, sagte Marko. »Sie müssen uns dorthin führen, Mrs. Pollifax; selbst sollten Sie allerdings nicht m Erscheinung treten. Ich denke, wir brauchen - wie viele Männer werden wir benötigen, diesen Laden zu überwachen, falls Eric der Rote wieder auftaucht? Bis wir genügend Leute haben, wirst du wohl oder übel auf deinen Sekretär verzichten müssen. Robin.« Er zwinkerte Robin zu. »Soll ich anrufen oder erledigst du das?«
»Ich geh' schon«, erwiderte Robin. Er erhob sich, ging in das Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich.
Geschmeidig wie eine Katze kam Marko aus seinem Sessel hoch. »Sind Sie bereit, in unser Spiel einzusteigen, Mrs. Pollifax?« fragte er ernst. »Sie wissen selbst, daß dabei auch der Tod mitmischt!«
»Worauf es meiner Meinung nach jetzt ankommt«, erwiderte sie, ohne auf ihre eigene Person näher einzugehen, »ist, zu verhindern, daß es noch mehr Tote gibt. Wir wissen nicht, was mit Alec geschehen ist, und wenn Sie dasselbe befürchten wie ich... « Sie beendete den Satz nicht, doch Marko warf ihr einen verstehenden Blick zu und nickte bekümmert.
»Ja«, murmelte er und ließ sich wieder in den Sessel sinken.
Robin kam zurück und berichtete: »Heute abend um neun können wir mit zwei Männern rechnen: Krugg und Upshot. Und ein dritter, Witkowski, wird im Laufe der, Nacht zu uns stoßen. Mehr Leute können sie uns im Moment nicht geben, aber zumindest scheinen sie allmählich zu begreifen, daß sich hier etwas zusammenbraut.«
Marko nickte. »Gut. Ich übernehme bis neun. Ich muß nur noch schnell meine Sachen packen.«
»Interpol - aber noch immer keine einheimische Polizei?« bemerkte Mrs. Pollifax, während sie vor dem Spiegel ihren Hut aufsetzte und mit einer mächtigen Hutnadel befestigte.
»Vergiß nicht, daß auch Damien Wi im Alleingang arbeitete«, entgegnete Robin. »Und wenn die geraubten Diamanten tatsächlich für Bestechungsgelder verwendet wurden, dann wurde damit das halbe Polizeipräsidium von Hongkong gekauft. Eine gesunde Paranoia ist in unserem Job oft ganz nützlich. Ich bin zwar überzeugt, daß die meisten Kollegen hier ebenso vertrauenswürdig sind wie du und ich, aber falls Inspektor Wi tatsächlich das Opfer einer Verleumdungskampagne war und dann umgelegt wurde, weil er die Finger nicht von der Sache ließ, müssen wir verdammt vorsichtig operieren. Wir wissen nicht, wem wir vertrauen können. Es ist einfach zu riskant, mit offenen Karten zu spielen. Die Männer, die uns zur Unterstützung zugeteilt wurden, kommen aus Tokio und Bangkok.«
»Was packt denn Marko eigentlich zusammen?« fragte Mrs. Pollifax ungeduldig.
»Was zum Essen, Funkgeräte, Batterien, Kamera, Filme und wahrscheinlich seine Kanone - schätze ich. Ich hoffe nur, wir finden in der Dragon Alley ein geeignetes Versteck für ihn.«
Mrs. Pollifax fühlte, wie allmählich Erregung von ihr Besitz ergriff. Nervös sah sie auf ihre Uhr. Es war kurz vor zwei, und wie es aussah, würde sie wieder nicht zum Essen kommen. Doch für den Vorzug, zwei Profis bei der Arbeit beobachten zu können, war sie gerne bereit, auf ihren Lunch zu verzichten. »Ich bin soweit«, erklärte sie aufgeräumt, als Marko mit einer Tasche in der Hand aus dem anderen Zimmer kam. »Wir nehmen wieder den Frachtaufzug - oder?«
Die erste Lektion, die Mrs. Pollifax in der Kunst der Überwachung erhielt, war das absolute Verbot, auch nur einen Fuß in die Dragon Alley zu setzen. Stattdessen umgingen sie die Dragon Alley in weitem Bogen und näherten sich ihr über die Straße oberhalb des schmalen Gäßchens. Sie schlüpften in Hinterhöfe und stolperten über Berge von Schutt, bis Mrs. Pollifax endlich das hohe, schräggestellte Fenster von Detwilers Hinterzimmer entdeckte. Robin skizzierte in seinem Notizblock die Lage von Feng-Imports und wandte seine Aufmerksamkeit dann sogleich einem ziemlich heruntergekommenen Gebäude in der Nähe zu, dessen oberes Stockwerk offenbar leerstand.
Sie kehrten auf die Straße oberhalb der Dragon Alley zurück, gingen bis zur Parallelstraße zur Dragon Alley und versuchten von dort, sich durch die Hinterhöfe Feng-Imports zu nähern. Sie zwängten sich durch enge Zaunlücken, spähten unter dem Schutz von Bäumen über die Dächer der Schuppen und Häuser, bis sie endlich das Haus, das Feng-Imports gegenüberlag, entdeckten. Wie sich herausstellte, war dies die kleine Pension, die Mrs. Pollifax bereits am ersten Tag aufgefallen war; eine windschiefe Bude, die sich mit beängstigender Schlagseite zur Dragon Alley neigte. Der Besitzer dieser stolzen Herberge war nirgends zu entdecken, und Mrs. Pollifax beobachtete mit Staunen, mit welcher Unverfrorenheit Marko und Robin dieses Problem lösten: Sie schlüpften einfach durch die Hintertür, gingen im Haus von Tür zu Tür und klopften so lange, bis sie jemanden fanden, der zu Hause war.
Der Mann nannte sich Pi und war von ihnen offenbar aus dem Schlaf gerissen worden. Er habe vor einer Woche seinen Job verloren, erklärte er seinen Nachmittagsschlaf, und wollte dann wissen, wer sie seien. Mrs. Pollifax spähte über die Schulter des Mannes in den winzigen Verschlag, den er bewohnte, und stellte fest, daß das Zimmerchen ein Fenster besaß, das direkt auf die Ladentür von Feng-Imports hinabsah. Zwanzig Minuten später hatte Pi seine wenigen Habseligkeiten gepackt - ein Bündel, nicht viel größer als Markos Tasche -, und er strahlte über das ganze Gesicht wegen der Summe, für die er sein Zimmer eine Woche lang weitervermietet hatte. Für das Geld, das sie ihm für sein Schweigen und für das Zimmer bezahlt hatten, konnte er es sich ohne weiteres leisten, in das Hongkong-Hilton umzuziehen, fand Mrs. Pollifax. Robin und Marko hatten inzwischen im Zimmer den idealen Platz für die Beobachtung von Feng-Imports gefunden. Nachdem Pi verschwunden war, waren Mrs. Pollifax und Robin Marko dabei behilflich, die wenigen Möbel in dem winzigen Raum umzustellen und das Funkgerät aufzubauen, dann gingen auch sie und ließen Marko alleine zurück.
»Was machen wir jetzt?« fragte Mrs. Pollifax, als sie die Parallelstraße zur Dragon Alley erreicht hatten - bereit zu neuen Taten und begierig, mehr über die Arbeit von Interpolagenten zu erfahren.
»Jetzt werde ich dich zunächst mal im Hotel absetzen«, lautete Robins ernüchternde Antwort. »Und ich werde versuchen, das obere Stockwerk in dem Haus hinter Feng-Imports zu mieten. Dafür brauche ich jedoch ein paar Geschäftskarten, die ich erst drucken lassen muß, und einen seriösen Businessanzug. Dann werde ich das Funkgerät im Hotel aufbauen und den Kontakt mit Marko herstellen. Du könntest inzwischen versuchen, Mr. Hitchens für mich aufzutreiben und ihn bitten, sich mit mir zu treffen. Ich würde ihm gerne das Foto von Eric dem Roten vorlegen und ihn... « Robin grinste Mrs. Pollifax verlegen an. »Ihn...«