Sie lächelte mitfühlend. »Du möchtest seine parapsychologischen Fähigkeiten in Anspruch nehmen? Mit all der Publicity, die im Augenblick um seine Person gemacht wird, müssen wir uns möglicherweise auf die Warteliste setzen lassen.«
Robin stoppte den Renault in der Straße hinter dem Hilton. »Quatsch!« knurrte er, zog die Handbremse und ließ den Motor laufen. »Erinnere ihn daran, wer ihm gestern nacht Unterschlupf gewährt hat. Laß ruhig eine Bemerkung über internationalen Terrorismus fallen. Erzähle ihm was von Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung und so weiter... Und dann bete zu Gott, daß er eine Antwort auf das >WANN?< von Inspektor Wi findet. Wir brauchen unbedingt das Datum - am besten den genauen Tag - zumindest aber die Woche oder den Monat.«
»Was du verlangst, ist nicht gerade bescheiden«, murrte Mrs. Pollifax.
»Kein Wunder«, konterte Robin, »denn was wir bisher in Händen haben, ist nun mal etwas dürftig.« Er beugte sich zu ihr und öffnete ihre Wagentür. »Es ist schon recht spät, und da der Himmel weiß, wann Mr. Hitchens wieder im Hotel auftaucht, und ich noch eine Menge zu erledigen habe, würde ich vorschlagen, wir treffen uns mit Mr. Hitchens morgen früh. Lade ihn doch zu einem opulenten Frühstück in unserer Suite ein. Sagen wir um acht? Schließlich ist sein Auftraggeber verschwunden, und möglicherweise fragt sich der arme Mr. Hitchens verzweifelt, wo er seine nächste warme Mahlzeit herbekommt.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Mrs. Pollifax überrascht. »Robin, du bist wirklich ein netter Kerl.«
»Klar«, grinste er. »Hast du das nicht gewußt? Sollte irgend etwas Unvorhergesehenes passieren - ich sitze bis etwa acht, halb neun am Funkgerät, dann muß ich zum Flughafen, um unsere Leute abzuholen. Also bis bald!« Er winkte ihr zu und fuhr dann weiter, um einen Parkplatz zu finden. Mrs. Pollifax schlenderte in Gedanken versunken zum Hintereingang des Hilton.
Als sie durch die Ladenstraße im Untergeschoß des Hotels ging, überlegte sie, daß sie keinerlei positive Neuigkeiten über Alecs Verbleib hatte, die sie Mr. Hitchens erzählen konnte. Und Mr. Hitchens erste Frage würde Alec gelten, denn schließlich war er wegen Alec nach Hongkong gekommen. Siedend heiß fiel ihr ein, daß der eigentliche Grund ihres Aufenthalts in Hongkong Detwiler war. Sie war hier, um Detwiler auf den Zahn zu fühlen, doch während des ganzen Tages hatte sie kaum einen Gedanken an ihn verschwendet. Sie war mit Mr. Hitchens' Problemen beschäftigt gewesen, mit Alecs Verschwinden, mit der Ermordung Inspektor Wis und der Identität des Mannes mit der schwarzen, gewalttätigen Aura. Zwar hatte es ihr großen Spaß gemacht. Robin und Marko bei der Arbeit zu beobachten, doch sie hatte kein einziges Mal konzentriert über ihren eigenen Auftrag, über Detwiler und Sheng Ti nachgedacht.
Sie blieb stehen und betrachtete in einer der Auslagen müßig die Titelseiten von Zeitschriften. Doch die Titel klangen alle irgendwie ähnlich: Blick, Fokus, Spion oder Horizont. Sie versuchte, ihre Gedanken auf den Fall zu konzentrieren. Wenn eine Verbindung zwischen Detwiler, Eric dem Roten und dem Verschwinden von Alec existierte, war es dann nicht denkbar, daß Detwiler Alec in seiner Wohnung festhielt? Wo und wie wohnte Detwiler eigentlich? Entschlossen, das nächste verfügbare Telefonbuch von Hongkong zu Rate zu ziehen, ließ sie Zeitschriften Zeitschriften sein und steuerte auf den Aufzug zu, um in die Halle des Hotels emporzufahren.
Sie hatte Detwilers Adresse gefunden und war soeben damit beschäftigt, sie in ihr Notizbuch zu schreiben, als ihr jemand auf die Schulter klopfte und sagte: »Seit Stunden versuche ich. Sie zu finden!«
Sie fuhr herum und starrte in zwei verblüffend helle Augen. Sie erkannte ihn nicht sogleich, denn Mr. Hitchens' Kopf und Schultern verschwanden fast ganz unter einem riesigen, breitkrempigen Schlapphut. Mrs. Pollifax unterdrückte den fast unwiderstehlichen Impuls, loszulachen und fragte statt dessen: »Sind Sie inkognito, Mr. Hitchens?«
»Nein, nein«, brummte er unglücklich. »Ich habe nur einen Eisbeutel auf dem Kopf, und da ich dachte, es könnte vielleicht Aufsehen erregen, wenn ich mit einem Eisbeutel auf dem Kopf in der Halle sitze, habe ich mir vom Manager des Hotels einen Hut geliehen. Können wir uns dort drüben hinsetzen?«
»Ja, natürlich«, erwiderte sie, und sie gingen zu der nächstgelegenen Sitzgruppe.
»Die Leute hier waren so furchtbar nett zu mir, daß ich gar nicht weiß, wo ich zu erzählen beginnen soll«, berichtete er begeistert. »Man hat mir ein anderes Zimmer gegeben, offenbar weil ich mich gestern nacht doch recht heftig gegen diesen... diesen Schläger gewehrt habe. Das Zimmermädchen stand heute morgen in meinem Zimmer vor einem Chaos. Ich bin jetzt in Zimmer 302 und...« - er machte eine Pause, um Luft zu holen, und strahlte dann über das ganze Gesicht -»...und heute abend können Sie mich in den Nachrichten sehen. Das Fernsehen hat mich interviewt! Und sehen Sie!« Er hielt ihr eine Zeitung hin. »Ganz frisch aus dem Druck!«
Mrs. Pollifax ließ sich auf die Couch sinken und schlug die Zeitung auf. Die Titelseite zierte ein Foto von Mr. Hitchens, der - eingerahmt von zwei Polizisten - in die Sonne blinzelte. Weiter unten auf der Seite war ein zweites Bild von Mr. Hitchens zu sehen; ein Porträt vor einem dunklen Hintergrund, der den weiß leuchtenden und verwegen um die Stirn geschlungenen Kopfverband besonders vorteilhaft betonte. Die Schlagzeile lautete: BERÜHMTER AMERIKANISCHER PARAPSYCHOLOGE IN HONGKONG.
»Ich bin berühmt!« strahlte Mr. Hitchens glücklich.
»Wie schön für Sie«, sagte Mrs. Pollifax. »Ihre Story nimmt fast die ganze Titelseite ein. Das freut mich für Sie, aber sagen Sie mir: Wie fühlen Sie sich, Mr. Hitchens? Ich meine, wie geht es Ihrer Verletzung?«
Seine Hände tasteten nach seinem Kopf. »Das Eis ist anscheinend geschmolzen, denn mein Kopf dröhnt wie ein chinesischer Gong. Aber das ist wahrscheinlich nur die Müdigkeit.« Er nahm den Hut ab, und der Eisbeutel fiel in seinen Schoß. Mit zwei Fingern hob er ihn hoch und sagte: »Sie haben keinen Platz dafür in Ihrer Handtasche?«
»Nein«, erwiderte sie ungerührt. »Da ist bereits 'ne Beretta und der Abschiedsbrief eines angeblichen Selbstmörders drin. Für einen Eisbeutel ist da kein Platz.«
Er nickte schicksalsergeben und stopfte den Eisbeutel in seine Jackentasche. »Sie haben Alec nicht gefunden?«
»Noch nicht - leider«, antwortete sie und verstummte, als ein Mann in prächtig wallendem Gewand und über und über mit Schmuck behängt in die Halle des Hotels segelte - in seinem Kielwasser ein Gefolge von nicht minder exotisch anmutenden Personen. Sie durchquerten die Lobby und verschwanden im Aufzug.
»In Squantum gibt's so etwas nicht«, bemerkte Mr. Hitchens kopfschüttelnd.
»Squantum?«
»Der Ort, wo ich lebe. In der Nähe von Boston. Aber wir sprachen über Alec.«
»Keine Spur von ihm. Aber wir haben etwas anderes gefunden«, sagte Mrs. Pollifax. »Robin hat uns beide für morgen früh um acht in seine Suite zum Frühstück eingeladen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«
Mr. Hitchens war hocherfreut.
»Er möchte Ihnen ein Foto zeigen und ...« Sie verstummte, als sie bemerkte, daß Mr. Hitchens ihr offenbar gar nicht zuhörte. Sie folgte seinem Blick zu einer Gruppe müde und erschöpft aussehender amerikanischer Touristen, die von einer chinesischen Reiseführerin in das Hongkong-Hilton begleitet wurden. Mr. Hitchens stieß einen unterdrückten Laut aus, sein Kinn klappte nach unten, und seine Augen weiteten sich vor Staunen.
»Was ist denn?« fragte Mrs. Pollifax verwirrt.
Mr. Hitchens schloß den Mund und schluckte vernehmbar. »Das ist doch...!« murmelte er - und dann: »Das ist doch...!« Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das ist doch Ruthie!« rief er aus. Er sprang auf und rief laut ihren Namen.