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Eine der Frauen in der Gruppe drehte sich um und sah herüber. Sie entdeckte Mr. Hitchens, und ihr Gesichtsausdruck war nicht weniger verblüfft, als der von Mr. Hitchens vor einem Augenblick. Sie löste sich aus der Gruppe, machte ein paar zögernde Schritte, blieb zaudernd stehen und eilte dann auf Mr. Hitchens zu. Sie trafen sich in der Mitte der Halle, und Mr. Hitchens umarmte sie schüchtern. Die Art, wie sich die beiden begrüßten, ließ auf eine schwierige und komplizierte Trennung vor langer Zeit schließen.

Mrs. Pollifax beobachtete das Paar lächelnd. Ruthie war die einzige seiner Frauen gewesen, die von Mr. Hitchens kein aufregendes Leben erwartet hatte - wenn sich Mrs. Pollifax recht erinnerte. Vorausgesetzt, sie brachte nichts durcheinander, dann war seine erste Frau Kindergärtnerin gewesen, seine zweite eine ehrgeizige junge Schauspielerin und seine dritte Frau eine ehrgeizige junge Zauberkünstlerin. Ruthie mußte seine erste Frau gewesen sein, denn wohl keine Frau, deren Ehrgeiz im Showbusineß Befriedigung suchte, würde ihr Äußeres so charakterfest ihren wahren, tieferen Eigenschaften unterordnen. Ruthie war klein und auf den ersten Blick unscheinbar, doch beim näheren Hinsehen mußte Mrs. Pollifax diesen Eindruck revidieren: Sie hatte große, empfindsame braune Augen, eine ganz reizende Stupsnase, die im interessanten Kontrast zu ihrem kleinen Kinn stand, das eine gehörige Portion Selbstbewußtsein und Stand-haftigkeit verriet. Sie trug ein braunes Kleid, bequeme Schuhe und ging - nach Mrs. Pollifax' Schätzung - auf die Vierzig zu. Eine sensible, kleine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht, entschied Mrs. Pollifax. Nur die leichte Röte, die in Ruthies Gesicht gestiegen war, verriet, wie sehr sie sich freute, ihn wiederzusehen.

»Aber ich verstehe nicht...«, hörte Mrs. Pollifax sie sagen. »Was in aller Welt machst du in Hongkong?«

Mr. Hitchens wandte sich zu Mrs. Pollifax um. »Was für eine Überraschung!« rief er. »Das ist Ruthie!«

Ruthies Augen folgten Mr. Hitchens' Blick, und Mrs. Pollifax sah in ihnen eine plötzliche Angst aufkeimem, als sie die Person suchten, zu der ihr Ex-Mann gesprochen hatte. »Sie liebt ihn noch immer«, dachte Mrs. Pollifax, »und fürchtet wahr-scheinlich, wieder eine dieser jungen Schauspielerinnen zu sehen.«

Aus Ruthies Blick wich die Angst, als sie Mrs. Pollifax entdeckte. »Oh!«, machte sie. »Oh!«

Lächelnd erhob sich Mrs. Pollifax von der Couch und gesellte sich zu den beiden. »Die Gründe für Mr. Hitchens' Aufenthalt hier sind ziemlich kompliziert und - übrigens, ich bin Mrs. Pollifax -, und er steckt bis über beide Ohren... Weshalb zeigen Sie ihr nicht einfach die Zeitung, Mr. Hitchens?«

Die Röte auf Ruthies Gesicht wurde noch eine Nuance tiefer, als Mr. Hitchens die Zeitung auseinanderfaltete und ihr stolz die Fotos auf der Titelseite zeigte. »Verzwickte Geschichte«, erklärte er vage, »aber im Augenblick nicht so wichtig. Du siehst prächtig aus, Ruthie!«

»Leider müssen Sie mich nun entschuldigen«, erklärte Mrs. Pollifax. »Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen.«

»Oh, nein, bitte«, widersprach Ruthie verwirrt. »Sie dürfen nicht glauben... Ich bin mit einer Reisegruppe hier, und wir haben ein sehr gedrängtes Programm. Heute abend stehen einige Nachtclubs auf der Liste, und ich... «

»Großartig«, strahlte Mr. Hitchens. »Warum stürzen wir beide uns nicht gemeinsam in das Nachtleben, Ruthie?«

Mrs. Pollifax ergriff die Gelegenheit, sich zurückzuziehen, und überließ die beiden den Gefahren und Freuden ihres Wiedersehens. Sie fuhr in ihr Zimmer hoch, um eine betont unauffällige Garderobe für den Abend auszuwählen, denn sie hatte keineswegs die Absicht, den Abend in den Nachtclubs von Hongkong zu verbringen.

8

In ihrem Zimmer angekommen, zog sich Mrs. Pollifax sogleich um. Sie entschied sich für einen einfachen Baumwollrock, eine gestreifte Bluse, bequeme Sandalen und ein blaugestreiftes Halstuch, das sie sich um den Kopf band. Dann kramte sie in ihrem Koffer nach dem Notizbuch, das sie auf Reisen stets bei sich hatte. Sie riß die erste Seite heraus, auf die sie im Vogelhaus des Zoologischen Gartens die Notizen für Cyrus gekritzelt hatte, und betrachtete kritisch die restlichen unbeschriebenen Seiten des Blocks. Schließlich nickte sie zufrieden, riß etwa zwanzig Blätter heraus und steckte sie in ihre Handtasche. Sie verließ das Zimmer. Auf ihrem Weg zum Haupteingang nahm sie einen Umweg durch das Untergeschoß in Kauf, um in einem der Läden eine sehr professionell aussehende Klemmappe zu erstehen. Auf der Straße angelangt, winkte sie ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Straße, in der Detwiler wohnte, ohne allerdings die Hausnummer zu nennen. Sie sollte eine Überraschung erleben: Mr. Detwiler wohnte auf einer Insel zu Füßen des Victoria-Peak, auf der Grundstücke sicherlich sündhaft teuer waren, doch in der von schattenspendenden Bäumen gesäumten Straße, in der Detwilers Haus lag, schien dies absolut kein Problem zu sein, denn zwischen den Häusern erstreckten sich großzügige und sorgfältig gepflegte Rasenflächen. Mrs. Pollifax zahlte das Taxi, dankte dem Fahrer und blieb, unentschlossen um sich blickend, am Bordstein stehen. Sie wünschte, sie hätte ihr Kleid und den Hut anbehalten, doch dann gab sie sich einen Ruck und schlenderte die Straße hinauf. Vor dem Haus mit der Nummer 3216 blieb sie stehen und entdeckte ein diskret zwischen den Büschen am Eingang des Gartens angebrachtes Schild: DETWILER - HAUS JASMIN.

»Klein, aber fein«, murmelte sie und verglich das Anwesen ganz unwillkürlich mit dem mehr als bescheidenen, winzigen Laden, den Detwiler in einer der entlegensten und schäbigsten Geschäftsgegenden der Stadt betrieb. Doch dann erinnerte sie sich, daß Detwiler ja schließlich mit Diamanten handelte. Sie seufzte tief. »Mut, Emily! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, flüsterte sie fast beschwörend und schlenderte weiter — zum Haus mit der Nummer 3218 - FINCH-BERTRAMS - HAUS ZU DEN BUCHEN.

Mrs. Pollifax ging zielstrebig zur Haustür und klingelte. Ein Dienstmädchen, eine zierliche Chinesin in einer voluminösen Schürze, erschien in der Tür. »Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax freundlich. »Ich führe eine Umfrage im Auftrag unserer Wirtschaftsredaktion durch und interessiere mich dafür, wie viele Stunden Sie täglich fernsehen.«

Die Chinesin betrachtete sie mit verständnislosem Blick. »Wer ist das, Ming?« rief eine Stimme in strengem, eindeutig englischen Tonfall, und eine sehr gepflegte und elegant gekleidete junge Frau trat neben das Dienstmädchen. Sie musterte Mrs. Pollifax eingehend, zuckte mit den Schultern und bat sie einzutreten.

»Weshalb nicht?« sagte sie. »Mein Mann kommt erst in ein paar Stunden nach Hause, und da Ming kein Englisch spricht, ist es oft recht langweilig, alleine in dem großen Haus zu sein.«

Fünfunddreißig Minuten später - nachdem sie mehr, als ihr lieb war, über Mrs. Finch-Bertrams, deren Bridge-Partien und Lieblingsboutiquen erfahren hatte und darüber, wie wenig sie von ihrem Gatten sah, der die paar Stunden, die er nicht im Büro war, am Telefon oder im Club in der Gesellschaft von Geschäftsfreunden verbrachte - mußte sich Mrs. Pollifax förmlich losreißen, wollte sie nicht unter den Belanglosigkeiten begraben werden, die Mrs. Finch-Bertrams interessant fand. Leider gehörten die Nachbarn in Haus Nummer 3216 nicht zu den Dingen, die Mrs. Finch-Bertrams' Interesse erweckten. Ja, natürlich sehe sie fern, und Mrs. Pollifax notierte sorgfältig, was Mrs. Finch-Bertrams zu diesem Thema zu sagen hatte: Vor allem Familienserien sehe sie sich oft an, wenn sie alleine zu Hause sei, die sie allerdings »zum Sterben langweilig« fände, und »alles, was spannend ist - wo man sehen kann, was die Dame heutzutage trägt«. Das Problem bei solchen Interviews, fand Mrs. Pollifax, als sie wieder die Straße erreicht hatte, lag darin, daß man ungebeten in irgendwelche Ehegeheimnisse und Klatschgeschichten eingeweiht wurde - und meist in solche, die einem nicht weiterhalfen...