Gegenüber, bei den Wongs in Haus Nummer 3217 hatte sie mehr Glück. Eine erstaunlich junge Mutter, eine Chinesin in Bluejeans, öffnete die Tür, während sie ihre drei kichernden Kinder in Schach zu halten versuchte.
»Vom Fernsehen? Oh, das ist mein Babysitter«, erklärte Mrs. Wong lachend. »Sie haben das richtige Haus gefunden. Er ist bei uns ständig an, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht ein stilles Dankgebet an das RTV spreche.«
Gott sei Dank, wurde Mrs. Pollifax diesmal nicht hereingebeten, und nachdem sie Mrs. Wongs Antworten bezüglich der fiktiven Umfrage notiert hatte, erkundigte sie sich interessiert: »Und die Familie, die gegenüber wohnt - haben die Kinder?«
Mrs. Wong schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Da wohnt Tom Detwiler. Er ist Junggeselle. Ich habe ihn schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Aber seine Haushälterin sieht sicherlich fern... «
Ein Junggeselle... eine Haushälterin... Mrs. Pollifax bedankte sich überschwenglich, winkte den Kindern fröhlich zum Abschied und entschied kurzentschlossen, daß es das beste sei, Mr. Detwilers Haus direkt anzusteuern, ehe sie möglicherweise einer zweiten Mrs. Finch-Bertrams in die Hände fiel. Während sie die Straße überquerte, betrachtete sie erneut das Haus -diesmal mit besonderem Augenmerk für diskrete Winkel und Verstecke, die geeignet wären, den lästigen Sohn eines ermordeten Polizeiinspektors vor unbefugten Blicken zu verbergen. Am Ende der Auffahrt zum Beispiel entdeckte sie eine recht geräumige Garage, über der offenbar auch einige Wohnräume lagen. Das Haus selbst schien auf den ersten Blick gar nicht so groß, doch bei näherem Hinsehen entdeckte Mrs. Pollifax einen angebauten Seitenflügel, der wegen der dichten Büsche und Bäume von der Straße her nicht zu sehen war. Das Haus konnte mit Recht als eine gekünstelte - je nach Geschmack mehr oder weniger gelungene - Mischung aus 118 europäischen und asiatischen Stilelementen bezeichnet werden: Über der glatten, modernen Frontfassade, in die dezent Teakholz- und Natursteinelemente integriert waren, türmte sich ein an den vier Ecken nach oben geschwungenes chinesisches Pagodendach. Die Haustür zierte ein schwerer Knauf aus massivem Messing, der die Form eines Delphins hatte. Mrs. Pollifax klingelte und wartete. Sie hoffte inständig, Mr. Detwiler war nicht ausgerechnet an diesem Nachmittag, einem unwiderstehlichen Bedürfnis folgend, in sein Haus zurückgeeilt, und sie wünschte sich, seine Haushälterin würde ebensoviel Anlaß zum Klagen haben wie Mrs. Finch-Bertrams und würde einer geduldigen Zuhörerin nicht widerstehen können.
Wie sich herausstellte, hatte Mr. Detwilers Haushälterin nur einen einzigen Grund zu klagen - einen sehr unerwarteten zwar, doch ihr Bedürfnis nach einem geduldigen Ohr und einer verständnisvollen Stimme war nichtsdestoweniger sehr ausgeprägt: Kaum hatte Mrs. Pollifax erwähnt, daß sie eine Umfrage durchführe, wurde sie in die Küche gebeten, um die weiteren Einzelheiten bei einer guten Tasse Tee zu erörtern.
»Manchmal fühle ich mich schon sehr einsam«, vertraute sie Mrs. Pollifax an und nickte dabei - ihre Einsamkeit bekräftigend - heftig mit dem Kopf. »Übrigens -ich heiße O'Malley... Jane O'Malley. Offen gestanden, wenn ich den Fernseher nicht hätte, ich wüßte nicht... Ich glaube, ich würde verrückt werden. Mr. Detwiler bezahlt mich zwar sehr großzügig - nichts gegen ihn -, aber wenn er nicht bald nach Hause kommt...« Sie führte Mrs. Pollifax in die Küche, setzte ihr in einer wunderhübschen Havilandtasse Tee vor und nahm ihr gegenüber am Küchentisch Platz.
Etwas verwirrt von Mrs. O'Malleys Klagelied schüttelte Mrs. Pollifax mitfühlend den Kopf. »Sie sind den ganzen Tag allein?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll. »Vermutlich müssen Sie das Essen für jeden der Familie immer wieder aufwärmen, anstatt es - wie es sich gehört - für die ganze Familie zu servieren?«
»Familie!« rief Mrs. O'Malley frustriert. »Er lebt alleine! Und essen tut er auch nicht zu Hause! Er ist schon seit zwei Monaten nicht mehr hier gewesen.«
»Er ist seit zwei...«, Mrs. Pollifax unterbrach sich. »Jaja -natürlich. Dann verstehe ich, daß Sie sich einsam fühlen.« Konnte es sein, daß sie die Wahrheit sagte? überlegte Mrs. Pollifax. Seit zwei Monaten war er nicht mehr zu Hause gewesen... ?
Mrs. O'Malley nickte bekräftigend. »So ist es. Und wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag ganz alleine ist - Sie müssen wissen, ich wohne auch hier: in dem Apartment über der Garage -, dann... Manche würden natürlich sagen: >Was für ein bequemer Job<, aber für wen soll ich denn kochen? Eine Frau braucht nun mal einen Mann, den sie bekochen kann.«
»Und Sie sind sicherlich eine gute Köchin«, warf Mrs. Pollifax ein.
»Das bin ich - ja. Die beste, hat mein Mann immer gesagt., . Gott habe ihn selig. Er war in der Britischen Armee, und wir waren so lange hier, daß ich einfach nicht mehr nach England zurück konnte. Ich fühlte mich dort nicht mehr zu Hause... Und Mr. Detwiler war immer so zufrieden mit meinen Dinnerpartys - als er noch welche gab... Ich habe nämlich einen GourmetKochkurs besucht, müssen Sie wissen.«
Nur mit Mühe konnte Mrs. Pollifax verbergen, wie sehr sie die monatelange Abwesenheit Mr. Detwilers von zu Hause überraschte, doch es gelang ihr, ganz beiläufig zu fragen: »Er ist wohl auf einer längeren Geschäftsreise?«
Ein seltsamer Ausdruck stahl sich in Mrs, O'Malleys rundes, biederes Gesicht; eine Mischung von Verwirrtheit und Verlegenheit, entschied Mrs. Pollifax, die versuchte, den Ausdruck genauer zu definieren. »Irgendwelche geschäftlichen Angelegenheiten - ja«, sagte Mrs. O'Malley. »Einmal in der Woche schickt er mir mit einem Botenjungen seine Wäsche; ohne ein Wort der Erklärung, wo er ist. Und ich gebe dem Jungen immer die sauberen und frisch gestärkten Hemden mit... Es ist schon deprimierend, das dürfen Sie mir glauben: Früher, da hatten wir Dinnerpartys - oft zwei oder drei in der Woche. Und er hatte auch seine Freundinnen - doch ja... Überhaupt war das Haus voller Leben - bis vor zwei Monaten. Und jetzt kommt nur noch der Botenjunge einmal in der Woche. Was soll ich anderes tun als fernsehen? Bei Ihrer Umfrage können Sie mich zu den Leuten zählen, die ihre meiste Zeit vor der Kiste verbringen. Ich glaube, ich würde sonst anfangen, mit mir selbst zu sprechen.«
Zwei Monate! Wie benommen wiederholte Mrs. Pollifax in Gedanken diese Information. Das war äußerst bemerkenswert! Hatte Bishop nicht gesagt, daß Detwilers Berichte an das Ministerium seit zwei Monaten irreführend und offenbar gefälscht seien? Laut sagte sie: »Das kann ich sehr gut verstehen, Mrs. O'Malley.« Sie legte die Klemmappe auf den Tisch und zückte ihren Kugelschreiber. »Mrs. Wong von gegenüber geht es auch nicht viel anders. Bei ihr ist die... eh... Kiste auch den ganzen Tag an.«
Mrs. O'Malleys Miene hellte sich auf. »Sie ist ja ein so liebes Ding. Und seit ihr Schwiegervater gestorben ist, geht es ihr auch viel besser.« Mrs. O'Malley schüttelte mißbilligend den Kopf. »Er war ein fanatischer Nationalist, wissen Sie. Er redete und redete und redete - den ganzen Tag. Und sie war so geduldig, das kleine Ding.«
»Ein Nationalist?«
»Ja... Das, was China war, ehe die Roten die Macht übernahmen. Dieser General Soundso... Tschiang Kaischek, oder so ähnlich, der die Regierung nach Taiwan verlegte und immer davon redete, aufs Festland zurückzukehren.« Mrs. O'Malley, der Mrs. Pollifax' Erstaunen nicht entgangen war, fügte erklärend hinzu: »Für Sie liegt das alles bestimmt lange zurück - das, was damals geschah -, aber nicht hier in Hongkong. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten der Flüchtlinge damals nach Hongkong flohen, und viele können das alles nicht vergessen - wie der alte Mr. Wong von gegenüber, der die Flagge der Nationalisten jeden Tag in seinem Garten hißte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß das nun vorbei ist. Also, was wollten Sie mich fragen?«