Mrs. Pollifax begann mit ihrer Umfrage, und Mrs. O'Malley kommentierte, ohne lange überlegen zu müssen, die Sendungen, die sie sich täglich ansah. Als sie fertig waren, hatte Mrs. Pollifax das vollständige TV-Programm von morgens bis Mitternacht auf ihrem Block stehen.
Als sie endlich Stift und Klemmappe beiseite schob, fragte Mrs. O'Malley: »Sind Sie auch Witwe?«
Mrs. Pollifax verbannte Cyrus vorübergehend aus ihren Gedanken und bejahte die neugierige Frage. »Schon seit vielen Jahren«, fügte sie hinzu.
Mrs. O'Malley nickte verständnisinnig. »Und dann noch diese Inflation hier, und was das für die Witwenrenten bedeutet - ich weiß Bescheid!... Wo wohnen Sie eigentlich, meine Liebe?«
»In der Nähe der Lion Rock Road«, erwiderte Mrs. Pollifax, der im Moment außer der Adresse von Inspektor Wi keine andere einfiel, und mit einem Blick auf ihre Uhr fügte sie hinzu: »Aber ich muß jetzt wirklich gehen. Ich habe noch eine Menge Leute zu befragen, und es ist schon fast fünf... «
»Die holen das Letzte aus einem heraus, nicht wahr?« seufzte Mrs. O'Malley mit einem Nicken. »Suchen Sie sich doch auch einen Platz als Haushälterin, meine Liebe. Es ist beinahe so, als hätte man ein eigenes Heim, sage ich immer.«
Mrs. Pollifax erhob sich lachend. »Sicherlich - vorausgesetzt, der Hausherr verschwindet nicht wochenlang.«
»Kommen Sie doch morgen wieder vorbei, wenn Sie noch in der Gegend zu tun haben«, sagte Mrs. O'Malley, als sie ihr die Haustür öffnete. »Wie sagten Sie noch mal, ist Ihr Name?«
Mrs. Pollifax versuchte verzweifelt, einen Gedanken zu fassen, doch in ihrem Kopf herrschte plötzliche Leere. »Leer -Irma Leer«, stammelte sie und floh.
Der Besuch in Detwilers Haus hatte Mrs. Pollifax einen Schock versetzt, dessen sie auf dem Weg zum Hotel und später in ihrem Zimmer verzweifelt Herr zu werden versuchte. Das Gespräch mit Mrs. O'Malley hatte sie verwirrt, denn Detwiler war ganz sicher nicht auf einer Geschäftsreise außerhalb Hongkongs - dessen war sie sich sicher. Schließlich hatte sie erst gestern mit ihm in Feng-Imports gesprochen. Und doch war er seit zwei Monaten nicht mehr zu Hause gewesen! Die quälende Frage, auf die sie noch keine Antwort wußte, war: weshalb?
Sie versuchte sich zu erinnern, was sie in seinem Haus zu finden erwartet hatte: etwas Unheilvolles, natürlich - denn warum sonst hätte sie die Beretta in ihrer Handtasche gelassen, als sie das Hotel verließ? Inzwischen fand sie die Vorstellung, Detwiler könnte Alec in einem Mansardenzimmerchen oder einem ähnlich entlegenen Winkel des Hauses gefangenhalten, gar nicht mehr so überzeugend. Statt dessen hatte sie eine elegante Vorstadtvilla und eine ergebene Haushälterin vorgefunden; und was Mrs. O'Malley betraf, war Mrs. Pollifax überzeugt, sie hätte Alec - würde er tatsächlich im Hause festgehalten - in die Küche geschleppt, um mit ihm bei einer Tasse Tee ein Schwätzchen zu halten.
»Irgend etwas muß ich übersehen haben«, dachte sie. »Ich muß endlich aufhören, irgendwelchen Hirngespinsten und vorgefaßten Meinungen nachzujagen ...Ich muß meine Gedanken davon freimachen, um klarsehen zu können, was mir bisher entgangen ist... «
Um zehn Uhr desselben Abends fuhr Mrs. Pollifax erneut durch die Straßen von Hongkong, um zum zweiten Mal heimlich Sheng Ti zu treffen: diesmal jedoch war sie in Begleitung von Robin.
Sie hatten sich im Lastenaufzug getroffen, als sie gerade das Hotel verlassen wollte. »Hier trifft man das erlesenste Publikum«, hatte Robin gespöttelt, als im Untergeschoß sich die Tür des Aufzugs langsam öffnete und sie verblüfft in Robins Gesicht gestarrt hatte. »Wohin des Wegs, meine liebe Mrs. P.?«
»Lotus hat angerufen«, erwiderte sie hastig. »Ich bin unterwegs zur Dragon Alley, und hab's eilig, denn sie konnte sich ihrer Zimmergenossinnen nur für eine halbe Stunde entledigen.«
»Ich begleite dich«, sagte er kurzentschlossen und nahm sie beim Arm. »Der Renault steht vor dem Eingang, und ich würde diesen jungen Mann sehr gerne kennenlernen.«
»Warst du am Flughafen?«
Er hielt ihr die Wagentür auf. »Ja. Die beiden Männer von Interpol habe ich bereits mit Marko zusammengebracht. Krugg löst Marko in der Dragon Alley ab, der dann Upshot zu unserem Beobachtungspunkt in der Seitenstraße bringt und anschließend ins Hotel zurückkehrt, um was zu essen und sich aufs Ohr zu hauen. Bisher habe sich nichts Besonderes getan, meinte Marko; außer daß Sheng Ti gegen halb sechs den Laden verlassen hat, mit zwei in braunem Papier verpackten Päckchen unter dem Arm. Um sieben kam er dann zurück - ohne die beiden Päckchen. Ich würde verdammt gerne wissen, was er da weggebracht hat.«
»Und ich«, sagte Mrs. Pollifax, »werde ihn fragen, wo sich Mr. Detwiler aufhält.« Sie berichtete ihm von der Umfrage und schilderte kurz, was sie dabei in Erfahrung gebracht hatte.
»Du warst fleißig, Mrs. Pollifax«, bemerkte Robin und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?«
»Ich habe die ganze Geschichte noch einmal durchgedacht und mich erinnert, daß ich schließlich seinetwegen in Hongkong bin«, erwiderte sie.
»Natürlich - ja«, gab er etwas verwundert zu.
Sie lächelte. »Außerdem habe ich Cyrus geschrieben, meine Yogaübungen nicht vergessen und Mr. Hitchens in den Abendnachrichten bewundert. Ich fand, er hat seine Sache sehr professionell gemacht - wie er mit den Fragen der Journalisten umging und dabei niemals der Eindruck entstand, er könnte außer Alec Wi irgend jemanden in Hongkong kennen.«
»Um so besser für ihn. Mir fällt ein Stein vom Herzen.«
»Übrigens«, fügte sie hinzu, »bringt die Abendausgabe der Zeitung auf der Titelseite ein Bild von Alec Wi mit der Überschrift: >WER HAT DIESEN MANN GESEHEN?< Ich hab' sie dabei, um das Bild Lotus und Sheng Ti zu zeigen.«
»Allmählich finde ich es unheimlich, daß dir anscheinend nichts entgeht«, bemerkte Robin mit einem Augenzwinkern.
»Ich erzähle das nur, damit du Alec nicht vergißt. Ich könnte es mir zumindest vorstellen - jetzt, wo auch noch Eric der Rote aufgetaucht ist. Aber Mr. Hitchens ist sehr besorgt wegen Alec. Ich habe Mr. Hitchens übrigens getroffen. Er wird morgen um acht mit uns frühstücken. Er war entzückt... Und von den Terroristen hat er natürlich keine Ahnung; seine Gedanken kreisen noch immer um gestern und um Alec.«
»Gestern... als wir alle noch eine Spur unschuldiger waren und... Weshalb fühle ich mich bloß ständig in der Defensive und schuldig? Zum Beispiel, daß ich Mr. Hitchens todunglücklich machen könnte... «
Sie lachte. »So unglücklich nun auch wieder nicht!« Sie berichtete von Ruthie, und ein erleichtertes Schmunzeln trat in sein Gesicht.
»Die Wege des Schicksals!« rief er theatralisch. »Und sie ist auf einer dieser furchtbaren Pauschalreisen, die einen bei jeder Jahreszeit durch ihr Programm jagen? Ich würde sie gerne kennenlernen; ich bin nämlich neugierig.«
Mrs. Pollifax nickte. »Ich denke, sie würde dir gefallen. Natürlich ist sie keine Schönheit wie etwa Court...«
»Court ist unvergleichlich«, stellte Robin apodiktisch fest.
Amüsiert erwiderte Mrs. Pollifax: »Natürlich - zumindest für dich... Aber Mr. Hitchens sieht das möglicherweise anders. Ich bin gespannt, was sich zwischen ihm und Ruthie anbahnt. Ich finde, er ist ein sehr sensibler und verständnisvoller Mann, und er hat reagiert, als würde er Zeuge eines mittleren Wunders... Da vorne rechts ist ein Parkplatz«, fügte sie schnell hinzu.
Gekonnt manövrierte Robin den Renault in die Parklücke. »Ein gewöhnliches oder ein göttliches Wunder?«
»Kein Wunder ist gewöhnlich«, lächelte sie. »Aber jede Frau, die wie Mr. Hitchens grüne Bananen und Wiederholungen von alten Fernsehserien liebt, kann mit Fug und Recht als ein göttliches Wunder bezeichnet werden. Wir müssen von hier noch zwei Blocks laufen.