An der Ecke mit der Neonschrift >JEDEN ABEND JAZZ, GIRLS< müssen wir abbiegen.«
Als sie die knarrende Holztür zu dem winzigen Hinterhof der Dragon Alley 40 vorsichtig hinter sich zuschob, entdeckte Mrs. Pollifax sogleich Lotus, die auch diesmal im Schatten der Hütte wartete. Als das Mädchen sah, daß Mrs. Pollifax nicht alleine gekommen war, sprang sie auf, um wegzulaufen. Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Er ist ein Freund«, flüsterte Mrs. Pollifax. »Ein guter Freund, glauben Sie mir. Es ist alles in Ordnung.«
Lotus bedachte Robin mit einem mißtrauischen Blick, doch dann führte sie die beiden durch die schmale Hintertür in das düstere, winzige Zimmer, in dem Mrs. Pollifax schon einmal gewesen war.
»O Gott - sieht aus wie eine Opiumhöhle«, murmelte Robin, der hinter ihr ins Zimmer trat.
Zu Mrs. Pollifax' Verwunderung schien Sheng Ti Robins Gegenwart in keiner Weise zu beunruhigen; was sie überaus rührend fand. Doch dann begriff sie, daß dies ein Ausdruck von Sheng Tis bedingungslosem und blindem Vertrauen in sie war - ein Umstand, der sie mit Sorge erfüllte. »Freund!« sagte Sheng Ti und schüttelte Robin strahlend die Hand. »Neuer Freund. Bitte - setzen.«
Sie setzten sich um die blakende Lampe, deren gespenstischer Schein ihren Gesichtern eine seltsam unnatürliche Röte verlieh, und Mrs. Pollifax eröffnete die Zusammenkunft, indem sie eine Serviette auf den Tisch legte, in die sie einige Süßigkeiten eingeschlagen hatte. Daneben legte sie 20 Hongkong-Dollar. »Als Zuschuß zur Miete - weil wir das Zimmer eine halbe Stunde benützen können«, erklärte sie Lotus. »Und nun zu den wichtigeren Dingen. Sheng Ti, hast du heute für Mr. Detwiler Botengänge erledigt?«
Sheng Ti nickte. »Ja. Und ich habe mir alles gemerkt.« Er schloß die Augen und schnarrte drauflos:
»Zwei Päckchen mit Diamanten: eines für Donald Chang, Nga Tsin Wai Road, in der Nähe des Flughafens in Kowloon, und das andere auf die Post, versichert, an Gern Märt, Bombay, Indien.« Er öffnete die Augen und lächelte stolz.
»Mich interessiert vor allem die Adresse in Hongkong«, sagte Robin. »Können Sie mir die genaue Adresse von Donald Chang geben, Sheng Ti?«
Sheng Ti nickte, brachte ein Stück Papier zum Vorschein und las die Adresse noch einmal vor, diesmal mit der Hausnummer und der Nummer des Apartments. »Ich arbeite gut?« fragte er Mrs. Pollifax eifrig.
Sie lächelte. »Du arbeitest gut - ja.« Sie zog die Zeitung aus ihrer Handtasche und hielt Sheng Ti das Bild von Alec Wi hin. »Hast du diesen Mann schon einmal bei Feng-Imports gesehen?«
»Nein. Nicht dort«, antwortete er kopfschüttelnd.
»Du meinst, du hast ihn anderswo gesehen?« fragte Mrs. Pollifax atemlos.
Sheng Ti zeigte auf das Bild. »In der Zeitung, heute abend... Ich lese jeden Abend die Zeitung, um Englisch zu lernen.«
»Verstehe«, sagte Mrs. Pollifax enttäuscht. »Und Sie, Lotus?«
»Nein, noch nie«, erwiderte Lotus.
»Und diesen Mann?« fragte Mrs. Pollifax und zog das zerknitterte Zeitungsfoto von Eric dem Roten aus ihrer Tasche. »Habt ihr ihn schon einmal im Laden gesehen?«
»Nein«, sagte Lotus, und Mrs. Pollifax erinnerte sich, daß das Mädchen erst zur Arbeit gekommen war, nachdem der Mann mit der gewalttätigen Aura Feng-Imports bereits verlassen hatte.
Sheng Ti jedoch studierte das Bild mit zusammengekniffenen Augen. Er nickte heftig. »Ja. Er kam sehr früh -gestern, glaube ich. Ja, gestern. Er brachte Yudee...«
»Jade«, erklärte Lotus.
»Shi, Jade... Und als er kam... sie schickten mich weg, um Qishui zu kaufen.«
»Limonade«, warf Lotus ein.
Sheng Ti nickte ungeduldig. »Aber ich habe ihn trotzdem gesehen - als ich ging. Er hat... komische Narben in... « Er tupfte mit dem Finger auf seine Wangen. »Das ist der Mann.«
»Ja«, sagte Mrs. Pollifax und nickte.
Robin beugte sich über den Tisch. Mit heiserer Stimme fragte er: »Haben Sie ihn ein zweites Mal gesehen? Wissen Sie, wo er hinging? Haben Sie seinen Namen gehört?«
Sheng Ti schüttelte traurig den Kopf.
»Noch eine Frage«, sagte Mrs. Pollifax und schob Sheng Ti die Serviette mit den Süßigkeiten hin. »Nimm doch eins. Sie sind köstlich.«
»Köstlich?«
»Ja... Wo schläft Mr. Detwiler? Bleibt er am Abend im Laden? Wohnt er jetzt dort?«
Sheng Ti sah sie hilflos an. »Ich gehe um acht, neun, zehn... Er noch da -Xiänsbeng - ich weiß nicht.«
»Na so was!« knurrte Robin. »Und wann fangen Sie zu arbeiten an?«
»Sechs Uhr - manchmal acht Uhr«, erwiderte Sheng Ti.
»Sklavenarbeit!«
»Und Sie, Lotus, wissen Sie etwas?« wandte sich Mrs. Pollifax an das Mädchen.
Lotus runzelte verwirrt die Stirn. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber seit Wochen ist Mr. Detwiler noch im Laden, wenn ich um sechs gehe. Das ist eigentlich ungewöhnlich, denn sonst ging er immer um fünf oder halb sechs. Er hat nämlich ein Haus...«
»Ich weiß«, warf Mrs. Pollifax ein. »Und wo wohnt Mr. Feng?«
Die Miene des Mädchens hellte sich auf. »Er hat eine Wohnung über dem Laden.«
Mrs. Pollifax begegnete Robins fragendem Blick mit einem triumphierenden Lächeln. Eine Wohnung über dem Laden! Detwiler konnte also ohne weiteres bei Feng wohnen, um jederzeit verfügbar zu sein - zum Beispiel. Mrs. O'Malley würde Detwiler so lange nicht zu Gesicht bekommen, bis das, was sie planten - was immer es sein , mochte - über die Bühne gegangen war.
Was immer er auch vorhaben mochte... Mrs. Pollifax seufzte. Die Information, daß Detwiler nachts in der Stadt blieb, war keine umwerfende Sache, aber sie war trotzdem froh zu wissen, wo er seine Nächte verbrachte.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Sheng Ti besorgt.
»Ist einem von Ihnen jemals ein Funkgerät bei Feng-Imports aufgefallen?« erkundigte sich Robin.
»Es gibt ein Radio - für Musik...«, antwortete Lotus. »Shouyinji«, erklärte sie Sheng Ti. »Ich weiß nicht, was über dem Laden ist. Ich glaube, es sind zwei Räume. Weshalb fragen Sie?«
Mrs. Pollifax warf Robin einen kurzen Blick zu. Unmerklich schüttelte er den Kopf. »Es ist besser, wenn ihr das nicht wißt -noch nicht«, entgegnete sie. »Aber es ist sehr wichtig. Und dieser Mann...«, sie deutete auf das Bild von Eric dem Roten, »... dieser Mann ist sehr gefährlich. Ein übler Bursche. Sollte er wieder bei Feng-Im-ports auftauchen oder wenn ihr sonst etwas über ihn, hört, sagt uns sofort Bescheid!« ;
»Ihm auch?« fragte Lotus und warf einen Blick auf Robin.
»Ihm auch«, erwiderte Mrs. Pollifax.
Robin war bereits dabei, seine Telefonnummer aufzuschreiben. »Sollten Sie Mrs. Pollifax nicht erreichen können, an diesem Telefon ist immer jemand.« ;
»Oder Sie kommen zum Hotel, wenn es sehr wichtig ist«, sagte Mrs. Pollifax und zog weitere zwanzig Dollar aus ihrer Handtasche. Zehn gab sie Lotus und zehn Sheng Ti. »Für das Taxi.«
»So viel Geld!« murmelte Sheng Ti beeindruckt. »Wir rufen morgen wieder an?«
»Ja, bitte«, sagte Mrs. Pollifax, und als sich Robin erhob, stand auch sie auf und gab Sheng Ti und Lotus zum Abschied die Hand. »Vielen Dank, ihr beiden«, lächelte sie.
»Dein junger Mann gefällt mir«, sagte Robin, als sie wieder im Auto saßen und durch die von Neonreklamen hell erleuchteten Straßen Hongkongs fuhren. »Allerdings hat er vor irgend etwas furchtbare Angst.»
»Ja«, stimmte Mrs. Pollifax zu und fügte dann hinzu:
»Ich auch übrigens... Du etwa nicht?«
Im Hotel angekommen, fuhr dieses Mal nur Robin mit dem Lastenaufzug nach oben. Mrs. Pollifax machte den Umweg durch die Halle, um zu fragen, ob ein Telegramm für sie da sei. Möglicherweise versuchte Car-stairs, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Es lag tatsächlich ein Telegramm für Mrs. Reed-Pollifax am Empfangsschalter. Ungeöffnet nahm sie es mit in ihr Zimmer, und während sie nach oben fuhr, ließ sie in Gedanken den Tag noch einmal Revue passieren. Er hatte damit begonnen, daß sie beim Erwachen Mr. Hitchens auf ihrer Couch vorgefunden hatte. Dann hatten sie die Leiche Inspektor Wis entdeckt. Sie hatte von Robin die wahre Identität des Mannes mit der schwarzen Aura erfahren, und es war ihnen gelungen, um Feng-Imports vielversprechende Beobachtungsposten einzurichten. Anschließend hatte sie ihre Umfrage durchgeführt, und am Abend war sie auch noch mit Sheng Ti und Lotus zusammengetroffen. Was für ein Tag! Kein Wunder, daß sie sich ausgepumpt und hundemüde fühlte.