Robin lehnte sich gegen den Schreibtisch und versuchte offenbar, seine grauen Zellen zu aktivieren. Mrs. Pollifax sah ihm interessiert zu. Mit einem bedauernden Grinsen sagte er: »Der Tiger Balm Garden wäre der ideale Platz, ihn loszuwerden. Er würde zwischen all den grotesken Gestalten zu sich kommen und hätte wahrscheinlich noch wochenlang Alpträume. Aber leider ist 136 der Tiger Balm Garden jetzt geschlossen. Schade - aber ich denke, wir müssen uns solch kreative Möglichkeiten abschminken und ihn irgendwo hier im Hotel loswerden.«
»Im Hotel...«, wiederholte Mrs. Pollifax gedankenverloren. »Vielleicht in einer der Bars?«
»Wir setzen ihn auf einen Barhocker«, grinste Robin genüßlich, »und lehnen ihn an einen Bloody Mary. «
»Oder wir könnten ihn ins Untergeschoß bringen oder in die Hotelküche. Oder... Warte mal - das ist vielleicht gar nicht schlecht!« rief sie. »Die Läden im Untergeschoß sind doch jetzt geschlossen?«
»Ja«, bestätigte er. »Aber der Durchgang zur Straße ist offen. Sicherlich haben sie einen Wachmann, der hin und wieder seine Runde macht.«
»Perfekt!« konstatierte sie zufrieden. »Ich werde mich nur schnell anziehen... «
Als Mrs. Pollifax in einem Straßenkostüm und den Hut verwegen in die Stirn gedrückt aus dem Badezimmer zurückkam, war Robin soeben damit beschäftigt, dem Bewußtlosen die Brieftasche in das Jackett zurückzuschieben. »Er hat auch einen Namen. Nennt sich Allan Chen.«
»Ich persönlich nenne ihn lieber den Mann mit dem Diplo-matenköfferchen«, erklärte sie. »Obwohl er heute ohne sein Köfferchen zum Festhalten gekommen ist. Also was ist? Wollen wir Mr. Chen nach draußen begleiten?«
Mühsam schleppten sie den Bewußtlosen den Korridor entlang. Glücklicherweise begegneten sie niemandem, dessen Mißtrauen durch die schlaff zwischen ihnen hängende Gestalt Mr. Chens geweckt worden wäre. Der Lastenaufzug schwebte nahezu geräuschlos in das Untergeschoß hinab, und als die Tür endlich zur Seite glitt, stellte Mrs. Pollifax mit einem vorsichtigen Blick nach draußen fest, daß die Ladenstraße zwischen dem Zeitschriftenkiosk und dem Shop, der die chinesischen Buddhas verkaufte, leer war.
»Was ist?« keuchte Robin, der sich mit der Brust gegen Mr. Chen stemmte und ihn gegen die Wand des Aufzugs preßte, damit er nicht zusammensackte. »Ist alles okay? Er wird mir allmählich zu schwer.«
»Ich muß das Terrain erst genauer sondieren«, entgegnete sie. Sie huschte ein Stück die Ladenstraße hinab und spähte vorsichtig um die Ecke. Sie signalisierte ihm zu kommen. »Nur ein Stückchen nach rechts«, rief sie mit unterdrückter Stimme. »Aber mach schnell!«
»Nichts lieber als das«, ächzte Robin und ließ Mr. Chen in seine Arme gleiten. »Und wohin jetzt mit ihm?«
»Wart's ab... Mein Gott, ist der schwer geworden!« stöhnte sie. »Hier sind wir schon.«
Robin machte große Augen. »Was in aller Welt ist das?« fragte er verblüfft.
»Hast du noch nie so was gesehen? Ein Apparat, der den Blutdruck mißt. Bei uns zu Hause stehen diese Dinger überall herum - in Kinos, Supermärkten, an den merkwürdigsten Orten... Man setzt sich hier auf dieses Bänkchen, schnallt dieses Band um das Handgelenk und wirft eine Münze ein. Auf dem Bildschirm kannst du dann deinen Blutdruck ablesen - wie bei einem Flipper.«
»Erstaunlich«, murmelte Robin beeindruckt. »Und wesentlich einfallsreicher und fantasievoller als ein simpler Barhocker.« Behutsam ließ er Mr. Chen auf das Bänkchen gleiten, und Mrs. Pollifax legte das Band um den Arm des Bewußtlosen. Damit er nicht von der Bank rutschen konnte, kippten sie Mr. Chens Oberkörper nach vorn und lehnten ihn mit der Stirn gegen die Glasscheibe des Apparats. Robin studierte die Betriebsanleitung, und ehe Mrs. Pollifax protestieren konnte, warf er vier Münzen in den Schlitz.
138 »Laß das, Robin!« lachte sie.
»Sein Blutdruck ist etwas zu hoch«, brummte er und trat einen Schritt zurück, um die aufscheinenden Zahlen besser lesen zu können.
»Ich habe den Verdacht, meiner ist im Augenblick auch nicht normal«, vermutete Mrs. Pollifax. »Hör mal! Sind das nicht Schritte? Schnell jetzt. Robin!«
»Jaja«, sagte Robin, und gemeinsam zogen sie sich bis zu der Ecke, um die sie zuvor gebogen waren, zurück. »Aber wenigstens haben wir Mr. Chen aus deinem Zimmer geschafft. Und sieh dir unser Werk an!«
Mrs. Pollifax warf einen letzten Blick zurück auf Mr. Chen. Er lehnte noch immer gegen die Sichtscheibe und erweckte ganz den Eindruck eines kurzsichtigen Mannes, der verzweifelt versucht, seinen Blutdruck abzulesen. Mrs. Pollifax konnte ihn von dort, wo sie stand, erkennen: 150/72 flimmerte über die Scheibe... 150/72 in großen, leuchtendroten Ziffern.
»Das war eine überaus lehrreiche Aktion für mich«, bemerkte Robin, als sich die Aufzugstür hinter ihnen geschlossen hatte. »Und ich denke, das sollten wir mit einem Glas begießen. Haben sie den Brandy in deinem Kühlschrank aufgefüllt?«
»Sicher. Und sie schreiben alles genau in kleine schwarze Notizbücher«, erwiderte sie.
»Sehr gut. Ich nehme an, du kannst ebenfalls einen vertragen. Ich bin jetzt zwar restlos überzeugt, daß dich Männer, die nachts in dein Zimmer stolpern, nicht schrecken können, doch allmählich muß es auch dir zuviel werden.«
»Ich finde es eher zum Lachen - um nicht zu sagen, amüsant«, entgegnete sie.
»Eindeutige Anzeichen von Hysterie«, bemerkte er trocken. Er brachte sie in ihr Zimmer und goß ihnen beiden einen Brandy ein. »Allright. Laß uns die Gelegenheit zu einer kurzen Lagebesprechung nutzen. Nur kurz, denn wir treffen uns ja so und so in ein paar Stunden beim Frühstück. Was glaubst du, hat eigentlich Detwilers Mißtrauen erweckt?«
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Frage wäre leichter zu beantworten, wenn man wüßte, wonach Mr. Chen in meinem Zimmer gesucht hat. Heute bin ich ganz sicher nicht verfolgt worden, und ich könnte schwören, daß ich Detwiler von meiner Harmlosigkeit überzeugt habe. Die einzige Möglichkeit, die ich mir vorstellen kann, ist die, daß Detwiler heute abend Mrs. O'Malley angerufen hat, und sie ihm von einem Besuch berichtet und mich beschrieben hat.«
»Wie wahrscheinlich, denkst du, ist diese Möglichkeit?« »Eins zu zehn vielleicht - würde ich sagen«, erwiderte sie. »Mrs. O'Malley hat schließlich schon seit zwei Monaten nichts mehr von ihm gehört.«
»Was könnte er in deinem Koffer gesucht haben? Oder in deiner Handtasche oder in... «
Er verstummte, und sie starrten einander ratlos an. »Die Pistole, die Beretta?« vermutete sie. »Die hatte ich ganz vergessen. Glaubst du, das wäre denkbar?«
Robin runzelte die Stirn. »Die Pistole könnte unter Umständen natürlich ein Indiz dafür sein, daß Detwiler bei dem Mord an Inspektor Wi die Finger im Spiel hatte. Doch das würde bedeuten, daß uns heute morgen - vielmehr gestern morgen - jemand beobachtet hat, als wir aus der Hütte kamen. Das wäre durchaus denkbar; und dann wüßten sie auch, daß einer von uns die Mordwaffe haben muß.«
»Aber weshalb suchen sie dann die Waffe ausgerechnet bei mir?« wandte Mrs. Pollifax ein. »Genausogut könntest du oder Mr. Hitchens die Pistole genommen haben. Sie können unmöglich gesehen haben, daß ich sie eingesteckt habe. Und aus welchem Grund sollten sie die Beretta ausgerechnet jetzt zurückhaben wollen - wo doch inzwischen ausschließlich meine Fingerabdrücke auf der Waffe sind? Das paßt nicht. Robin.«
»Das finde ich auch«, erwiderte er. »Aber trotzdem solltest du das verdammte Ding so schnell wie möglich loswerden.« Er seufzte tief. »Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen, meinst du nicht auch? Eine von Court gern und oft zitierte Weisheit aus dem Zen-Buddhismus besagt >Tue dein Bestes - dann gehe weiter<. Ich denke, wir haben unser Bestes getan heute nacht. Wir sollten uns jetzt hinlegen. Glaubst du, du kannst schlafen?«