Seit zehn Monaten war sie nun mit Cyrus verheiratet. Mit einem Lächeln sah sie sich in dem Raum um, in dem Cyrus' Gegenwart fast körperlich zu fühlen war. Sie konnte nur hoffen, daß er Verständnis dafür aufbringen würde, daß man sie brauchte.
»Ich werde gebraucht!« wiederholte sie laut und faltete entschlossen den Zettel mit der Nachricht für Cyrus zusammen. Sie erhob sich und klappte den Koffer zu.
Es war genau zehn Minuten vor zwölf, als sie mit dem Koffer in der einen und der Notiz in der anderen Hand die Treppe hinunterging. Bishop stieß einen Pfiff aus, als er sie sah.
»Gießen Sie diese Rosen jeden Abend? Was für ein Hut!« rief er verzückt. »Was für ein Hut!«
»Danke sehr!« erwiderte sie geziert und ging - nachdem sie den Koffer abgestellt hatte - ins Kellergeschoß hinab, um den erstaunten Mr. Lupalak davon in Kenntnis zu setzen, daß sie für einige Tage verreisen müsse, daß er Mr. Reed ausrichten solle, er würde eine erklärende Nachricht am gewohnten Platz finden und daß er das Rundfenster unter allen Umständen leicht asymmetrisch anbringen solle. Sie kehrte ins Eßzimmer zurück. »Ganz sicher glaubt er, ich verlasse Cyrus«, seufzte sie. »Wahrscheinlich nimmt uns ohnehin kein Mensch in der Nachbarschaft ab, daß Cyrus und ich verheiratet sind. Namensschilder wie Reed-Pollifax geben immer Anlaß zu Spekulationen.«
»Ich könnte ja kurz in den Keller gehen und vor Mr. Lupalak bezeugen, daß ich Ihre Hochzeit miterlebt habe«, schlug Bishop mit einem anzüglichen Grinsen vor.
»Nein, nein - lassen Sie ihn ruhig«, entgegnete Mrs. Pollifax mit schnippischem Unterton. »Jeder braucht in seinem Leben etwas, das ihm Rätsel aufgibt - glauben Sie nicht auch? Soll Mr. Lupalak denken, was er will.« Sie legte die Notiz für Cyrus in den Eisschrank, nahm ihren Regenmantel von der Garderobe, und Punkt zwölf Uhr mittags verließ sie gemeinsam mit Bishop das Haus. Sie fühlte sich gerüstet für Hongkong und war gespannt, welche Abenteuer sie dort wohl erwarten würden.
MONTAG
2
In San Francisco stieg Mrs. Pollifax in das Flugzeug, das sie über die zweite Etappe ihrer Reise bringen würde, und erneut wunderte sie sich über die Massen von Menschen, die so zielstrebig von einem Punkt A nach dem Punkt B hasteten - oder nach C oder D - und dabei völlig von einer Welt vereinnahmt waren, die man wieder vergaß, sobald man am Ziel der Reise angelangt war. Sie überlegte, ob andere vergleichbare, der normalen Existenz enthobene Lebensbereiche existierten, die wir in ähnlicher Weise vom Alltagsleben losgelöst und einem übergeordneten Plan folgend erleben und wieder abstreifen, sobald wir diese Ausnahmesituation überwunden haben. Vergleichbar ist vielleicht ein Krankenhausaufenthalt, überlegte sie, der einer ähnlichen übergeordneten Planmäßigkeit unterliegt, auf die wir selbst nur wenig Einfluß besitzen...
»Oh - entschuldigen Sie!« sagte sie, als sie einem Mann, der vor ihr in der Schlange stand, auf die Ferse trat. Er drehte den Kopf und bedachte sie mit einem eisigen Blick. Entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, sagte sie spitz: »Warum bleiben Sie auch so plötzlich stehen?«
Der Blick des Mannes kam einer tätlichen Beleidigung gleich; er starrte sie an, als sei sie ein lebloser Gegenstand, der ihm im Wege stand. Er war groß, schlank, makellos gekleidet; ein hageres, pockennarbiges Gesicht mit kalten Augen. Nicht gerade ein netter junger Mann, überlegte sie, als dieser sich in Sitz 21-A fallen ließ. Sie ging weiter den Gang hinab zu Sitz 48-B und stellte erleichtert fest, daß 48-A bereits von einem weitaus freundlicheren Gentleman besetzt war.
Das Flugzeug startete und stieg über dem saphirblauen Hafen von San Francisco in den Himmel - der untergehenden Sonne entgegen. Mrs. Pollifax' Sitznachbar räusperte sich. »Würden Sie vielleicht gerne einen Blick in die >Newsweek< werfen?« fragte er und bot ihr seine Zeitschrift an.
Zwei Stunden später hatten sie sich vorgestellt - er hieß Albert Hitchens -, und nach dem Abendessen entwickelte sich zwischen ihnen ein langes Gespräch über psychische Phänomene, denn Mr. Hitchens war, wie sich herausstellte, Psychologe.
»Es ist mein Dharma«, sagte er schlicht.
Mr. Hitchens war nicht unbedingt eine überwältigende Erscheinung: Er war nur wenig größer als Mrs. Pollifax selbst, hatte eine relativ dunkle Hautfarbe, und seine Gesichtszüge konnte man nicht gerade als markant oder gar edel bezeichnen. Für einen Mann um Mitte Vierzig war seine Kleidung auffallend salopp - er trug ausgewaschene Jeans, ein wollenes Hemd und bequeme Halbschuhe -, doch seine Augen waren auffallend und durchdringend; aufgrund seines dunklen Teints erschienen sie beinahe durchsichtig und von einer faszinierenden silbrig-blauen Klarheit.
Mrs. Pollifax, die eine eifrige Karateschülerin war, seit Jahren Yoga betrieb und auch in der Zen-Philoso-phie bewandert war, nickte verstehend, als er das Wort Dharma erwähnte. »Ich muß zugeben«, räumte sie ein, »daß ich mir nicht gänzlich im klaren bin, was den Unterschied zwischen Karma und Dharma betrifft.«
Er nickte verständnisvoll. »Dharma ist das Wesentliche in der Existenz des Individuums - seine Arbeit, seine Berufung, könnte man sagen -, während Karma die Kraft oder den Einfluß früherer Leben bezeichnet, der unser Schicksal in der jetzigen Existenz bestimmt.«
Der leicht belehrende Tonfall, mit dem er sprach, war offenbar auf die zahlreichen Vorlesungen zurückzuführen, die er zu diesem Thema gehalten hatte, denn zu Mrs. Pollifax' Überraschung war Mr. Hitchens ein erfolgreicher Psychologe, der bereits mehrere Bücher über östliche Philosophie verfaßt hatte, der an den Hochschulen in New England kein Unbekannter war und der sich für die Polizeibehörden von Boston als ein wertvoller Mitarbeiter erwiesen hatte - insbesondere beim Aufspüren vermißter Personen.
»Dies«, so erklärte er nach etwa drei Stunden Flugzeit, »ist übrigens auch der Grund, weshalb ich nach Hongkong fliege. Einer meiner ehemaligen Studenten an der Universität von Boston, ein erfrischend kluger junger Mann chinesischer Abstammung, telegrafierte mir vor einigen Tagen aus Hongkong und bat mich, ihm bei der Suche nach einem vermißten Verwandten behilflich zu sein.«
»Glauben Sie, Sie können ihm helfen?« fragte Mrs. Pollifax interessiert.
»Etwas bekomme ich ganz sicher heraus«, erwiderte er überzeugt.
Mrs. Pollifax musterte ihn aufmerksam und kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich recht hatte; denn in den Augen dieses Mannes lag unbestreitbar etwas äußerst Ungewöhnliches, fast Übersinnliches. »Wie machen Sie das eigentlich?« fragte sie. »Bisher bin ich erst ein einziges Mal einem Menschen mit einer derartigen Begabung begegnet - einer Zigeunerin übrigens - und es war keine Zeit, sie nach ihrem Geheimnis zu fragen. Wie gehen Sie an einen solchen Fall heran? Was geschieht dabei?«
»Es ist grob gesagt eine Frage der Vorstellungskraft«, erklärte Mr. Hitchens. »Ich konzentriere mich zum Beispiel auf einen Gegenstand, der der vermißten Person gehört, und er sagt mir, ob die betreffende Person noch am Leben ist... Oder manchmal versetze ich mich in einen tranceähnlichen Zustand und erhalte Eindrücke - genauer gesagt Bilder -, die mir Hinweise auf den Aufenthaltsort der betreffenden Person geben.«
»Eindrücke«, sinnierte Mrs. Pollifax, und als eine Bewegung einige Sitzreihen vor ihr ihre Aufmerksamkeit erregte, fragte sie: »Welchen Eindruck macht zum Beispiel dieser Mann dort vorne, der eben von der Toilette zurückkommt, auf Sie?« Es war derselbe junge Mann, dem sie zuvor in die Hacken getreten war.