»Wird ja auch Zeit, daß Mrs. Pollifax endlich was von der Stadt sieht«, warf Robin ein. »Immer nur die Arbeit und kein Vergnügen und all das. Erzählen Sie doch mehr von Ruthie, Mr. Hitchens, der Frau, der es nichts ausmachte, daß Sie ein stiller und langweiliger Typ sind - wie Sie sich selbst genannt haben.«
Zögernd und etwas befangen begann Mr. Hitchens von Ruthie zu erzählen, und Mrs. Pollifax konnte feststellen, daß ihre Vermutungen verblüffend nahe bei der Wahrheit lagen: Die beiden waren bereits in der Highschool ein Liebespaar gewesen und hatten jung geheiratet. Zehn Jahre lang war sie die einzige Frau in seinem Leben gewesen.
»Doch dann - ich weiß auch nicht mehr, wie das alles passieren konnte...«, sagte Mr. Hitchens grimmig und dachte mit einem düsteren starren Blick an seine Vergangenheit. Sie warteten auf Mr. Hitchens' Erklärung, wie das alles passieren konnte. Robins Gabel verharrte unentschlossen über dem Teller, und Mrs. Pollifax spähte gespannt über den Rand ihrer Tasse in Mr. Hitchens von Erinnerungen gequältes Gesicht.
»Es war damals, als mein erstes Buch über parapsychologische Phänomene veröffentlicht wurde«, erinnerte sich Mr. Hitchens unbehaglich. »Ich wurde zu einer Talkshow nach Boston eingeladen, und dort traf ich Sophie Simms.«
»Aha«, brummte Robin, und seine Gabel setzte sich wieder in Bewegung.
»Sophie war Schauspielerin?« bohrte Mrs. Pollifax weiter.
Mr. Hitchens nickte unglücklich. »Sie wäre es gern gewesen ... ja. Sie hatte die längsten Wimpern, die ich je gesehen habe... Sie trat in einem kleinen Nachtclub auf und... Ich glaube, ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß mir mein Beruf als Psychologe bei privaten Problemen absolut nichts nützt.«
»Und wie lange hat es gedauert?« erkundigte sich Robin mitfühlend.
»Für Ruthie war es furchtbar, einfach furchtbar«, fuhr Mr. Hitchens fort und starrte trübsinnig auf seinen Teller. »Deshalb hat es mich auch maßlos überrascht, daß sie bereit war, den gestrigen Abend mit mir zu verbringen - das dürfen Sie mir glauben. Ich war wie von Sinnen damals - richtig hypnotisiert... Sophie war so... so atemberaubend schön.« Er hob den Blick von seinem Teller und fixierte nun die rosarote Rose, die in der Mitte des Tisches stand. »Ich fühlte... es ist schwierig zu erklären, aber ich fühlte, als hätte ich plötzlich einen ganz anderen Zugang zur Welt der Frau.« Er schüttelte selbstironisch den Kopf. »Allein Sophie am Morgen zuzusehen, wie sie sich schminkte, war... war... als würde ich Cezanne dabei beobachten, wie er seine Farben mischt. Es war ein so vertrautes, intimes Ritual... Und dann ihre Kleider! Ich half ihr immer, sie auszuwählen; sie mußten besonders extravagant sein, müssen Sie wissen, und...« Er unterbrach sich und seufzte tief. »Um Ihre Frage zu beantworten: Wir hatten ein sehr schönes Jahr - wohl vor allem, weil ich so verknallt in sie war - und dann zwei weitere Jahre, ehe sie mit einem drittklassigen Produzenten durchbrannte, von dem sie annahm, er könnte für ihre Karriere von größerem Nutzen sein als ich... Er war es übrigens nicht«, fügte er traurig hinzu.
»Das sind sie wohl nie«, sagte Robin. »War da nicht noch eine dritte... eh...?«
»Gescheiterte Beziehung? Enttäuschung?« Mr. Hitchens' Lachen klang bitter. »Oh, ja... Sophie hatte eine Freundin... Sie hieß Rosalie und war ebenfalls im Showbusineß . Sie hatte bei mir einige Sitzungen - umsonst natürlich ... Und sie war so verständnisvoll, was meine Probleme mit Sophie betraf. Natürlich hat sie ebenfalls nicht bedacht, daß die Ehe mit einem Psychologen nicht besonders nützlich für ihre Karriere sein würde.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Ich war - aber das brauche ich wohl gar nicht zu betonen - äußerst naiv und sicher auch sehr unerfahren.«
»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Mrs. Pollifax gelassen. Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Seien Sie doch bitte nicht so direkt; keiner hört gerne die ungeschminkte Wahrheit.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß das Leben eines Psychologen von so vielen gefährlichen Fallen gepflastert ist«, bemerkte Robin. »Aber ich verstehe sehr gut, daß man der Faszination der Schönheit verfallen kann. Ich war ihr lange genug erlegen und hatte nichts anderes im Kopf, als zu den Schönen und Reichen zu gehören - egal, wie dumm sie waren«, fügte er hinzu und warf Mrs. Pollifax einen selbstironischen Blick zu. »Irgendwie verständlich, denn ich war der Sohn eines Londoner Schlossers und gab keine Ruhe, bis ich mit den Scheichs und Prinzessinnen auf du und du stand.«
»Tatsächlich?« Mr. Hitchens sah ihn überrascht an.
»Ja. Aber keine von ihnen hatte lange Wimpern«, erwiderte Robin ernst.
»Ich weiß Ihr Verständnis zu würdigen«, sagte Mr. Hitchens und schüttelte traurig den Kopf. »Aber ich... Seit meiner dritten Scheidung vor einem Jahr fühle ich so etwas wie Scham - ja, wirklich. Ich wollte immer... ich hatte stets vor, ein Leben des Geistes zu führen - ich hoffe, das klingt nicht zu hochgestochen -, doch alles, was ich über mich gelernt habe, ist, daß ich ein schwacher und oberflächlicher Mensch bin.«
»Quatsch!« sagte Mrs. Pollifax schroff. »Wir alle verrennen uns von Zeit zu Zeit - wie sonst sollten wir herausfinden, wer wir sind? Ich persönlich finde, das härene Hemd steht Ihnen gar nicht, Mr. Hitchens. Worauf es ankommt ist, wer und was Sie jetzt sind.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Nun - schämen Sie sich, wenn Sie glauben, es sei angebracht«, erwiderte sie, »aber sehen Sie sich zum Beispiel Robin an. Er hat sich auch aus eigener Kraft aus einer frustrierenden Situation befreit und kann seine beträchtlichen Talente und Fähigkeiten - wie gesetzwidrig sie auch gewesen waren - nun in einem weit attraktiveren Arbeitsfeld einsetzen«, erklärte Mrs. Pollifax und warf Robin einen maliziösen Blick zu. »Hätte er das damals nicht getan - in der für ihn damals einzig praktikablen Art und Weise -, er wäre nie bei Interpol gelandet, wo er wirklich gute und nützliche Arbeit leistet.«
»Hört, hört!« brummte Robin.
»Und ganz sicher hätte er seine Frau Court nicht kennengelernt, die er heiß und innig liebt. Und Sie, Mr. Hitchens, Sie wären jetzt ganz sicher nicht hier in Hongkong und versuchten einen Mord aufzuklären, machten Schlagzeilen und hätten auch Ruthie nicht wieder getroffen, wenn Ihnen diese beiden Frauen nicht den Kopf verdreht und Sie damit soweit gebracht hätten, diesen Job zu übernehmen - oder? Wenn das Leben ständige Entwicklung ist, wie sonst als durch solch schmerzhafte Erfahrungen können wir dazulernen und uns weiterentwickeln?«
Mr. Hitchens sah sie interessiert an. »Sie etwa auch...?«
Mrs. Pollifax lachte. »Natürlich! Es ist noch gar nicht allzulange her, daß für mich das Leben völlig sinnlos geworden war, und ich mich fragte, ob es überhaupt einen Sinn habe, weiterzumachen. Ein Arzt riet mir damals, der beste Weg, meinen Depressionen zu entfliehen, sei, einen Job anzunehmen, der mich schon immer fasziniert hat. Und ehe ich mich versah, war ich eine Agentin. Und das hat mein Leben von Grund auf verändert«, fügte sie vergnügt hinzu. »Aber genug davon - so finden wir Alec nie, und Mr. Hitchens' erstaunliche Talente liegen ebenfalls brach.«
»Umwerfend«, sagte Mr. Hitchens und starrte Mrs. Pollifax bewundernd an.
»So ist es«, konstatierte Robin und bedachte ihn mit einem warmen Lächeln.
»Apropos, gestern nacht hatte ich ganz stark das Gefühl, daß Alec noch am Leben ist«, bemerkte Mr. Hitchens. Er versuchte sich auf dieses Thema zu konzentrieren, doch unwillkürlich wanderte sein Blick mit dem Ausdruck unverhohlener Neugierde immer wieder zu Mrs. Pollifax hinüber.
»Besteht eine Möglichkeit, Mr. Hitchens«, warf Robin ein, »mit Hilfe Ihrer parapsychologischen Fähigkeiten herauszufinden, wo Eric der Rote das Drama inszenieren will - ob in Hongkong, in Kowloon, in den Neuen Territorien oder in Macao?«