»Welches Drama?« fragte Mr. Hitchens.
Robin zuckte mit den Schultern. »Darum geht es den Terroristen doch im Grunde genommen - reines Theater. Mit diesen Anschlägen wird nie etwas Konkretes erreicht, außer daß sich eine kleine Gruppe von Leuten in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit rückt, indem sie all das zu zerstören droht, was die Zivilisation zusammenhält.«
»Der absolute Terror«, warf Mrs. Pollifax ein. »Wie ungezogene, monströse Kinder, die den Erwachsenen, die sich von Regeln, Gesetzen und Skrupeln leiten lassen, eine Nase drehen.«
»Ich habe in meinem Leben schon eine Menge mit Verbrechern - zum Beispiel mit Drogenhändlern und Waffenschmugglern - zu tun gehabt«, knurrte Robin heiser, »das bringt so mein Job mit sich. Und ich muß eines sagen: Diese Leute halten sich zumindest an die Spielregeln und wissen, worauf sie sich einlassen. Wenn auch viele Menschen an den Drogen sterben, die sie verkaufen, so helfen ihre Opfer doch freiwillig bei ihrer eigenen Zerstörung mit; und wenn die Drogenhändler auch bereit sind, jedes Gesetz mit Füßen zu treten, so erkennen sie doch zumindest an, daß es Gesetze gibt.
Aber Terroristen...!« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind die wahren Parasiten unseres Jahrhunderts. Wenn die ein Statement abgeben wollen, dann werfen sie ganz einfach eine Bombe oder nehmen irgendwelche unschuldigen Menschen als Geiseln. Sie töten ohne Gewissensbisse, ohne Mitleid und ohne Leidenschaft. Und wenn sie Geld brauchen, dann überfallen sie einfach eine Bank. Ich empfinde für sie nicht nur Verachtung, ich habe auch Angst vor ihnen, denn wenn man es mit Leuten zu tun hat, die für nichts Leidenschaft empfinden als für Zerstörung und Gewalt, dann ist das beängstigend.«
»Die totale Lebensverachtung«, murmelte Mrs. Pollifax, und die Erinnerung an den Blick Eric des Roten sandte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.
»Geben Sie mir eine Karte!« rief Mr. Hitchens unvermittelt. »So viele Karten, wie Sie haben.«
Robin sprang auf und brachte ihm alle Karten, die er hatte: die Stadtpläne von Hongkong, von Kowloon, von den Neuen Territorien und von Macao. Mr. Hitchens breitete sie auf dem langen Tisch aus und bat um Stille.
»Die können Sie haben!« versicherte ihm Robin.
Mr. Hitchens schloß die Augen und saß reglos da, bis das Ticken der Uhr an der Wand das Zimmer anzufüllen schien. Schließlich hob er eine Hand und bewegte sie langsam über die Stadtpläne hinweg - manchmal in einer kreisenden Bewegung, dann wieder hin und her oder auf und ab. Von Zeit zu Zeit verharrte seine Hand zögernd an einer Stelle, um dann suchend weiterzuschweben. Etwa fünf Minuten vergingen, dann ließ er sie klatschend auf einen der Pläne fallen. Er öffnete die Augen. »Dieses Gebiet«, sagte er und zeichnete mit einem Kugelschreiber, den er aus seiner Jackentasche zog, einen Kreis. »Dieses Gebiet verursacht bei mir unangenehme Gefühle, eine Ahnung von Gewalt und äußerst beunruhigende Schwingungen.«
»Das Zentrum von Hongkong«, murmelte Mrs. Pollifax und beugte sich näher über den Stadtplan. »Mitten in der Stadt?«
»Der Kreis umfaßt ein Riesengebiet«, stellte Robin bekümmert fest, »und Feng-Imports liegt sogar außerhalb.«
Mr. Hitchens zuckte mit den Schultern. »Aber irgendwo in diesem Gebiet sind Waffen; unter anderem auch ein Ding, das so aussieht... Ein Stück Papier, bitte.«
Mrs. Pollifax reichte ihm eine Papierserviette und beobachtete gespannt, wie der Stift über das Papier flog. »So ungefähr«, sagte Mr. Hitchens.
Robin starrte schockiert auf die Zeichnung. »Wissen Sie, was Sie da gezeichnet haben? Das ist ein Raketenwerfer!«
»Oh!« sagte Mr. Hitchens. »Das wußte ich nicht. Ich habe nur das gezeichnet, was ich vor meinem geistigen Auge gesehen habe.«
Robin ließ sich verblüfft auf seinen Stuhl sinken und starrte Mr. Hitchens in grenzenloser Verwunderung an. Er blinzelte konsterniert und schloß mühsam den Mund. Offenbar hatte er bis zu diesem Augenblick Mr. Hitchens' Fähigkeiten gewaltig unterschätzt, stellte Mrs. Pollifax fest. »Die Geheimdienste arbeiten seit langem mit Parapsychologen und übersinnlich veranlagten Personen«, sagte sie leise. »Der CIA, die Russen... «
»Aber...aber Mr. Hitchens hat noch nie zuvor einen Raketenwerfer gesehen!« protestierte Robin. »Es ist einfach ... unheimlich!«
»Sicherlich«, erwiderte Mrs. Pollifax und entsann sich ihrer eigenen Sprachlosigkeit und Verblüffung, als ihr vor nicht allzulanger Zeit in der Türkei aufgrund solcher Fähigkeiten das Leben gerettet wurde.
»Das bedeutet, daß sie ein Funkgerät haben müssen«, stellte Robin fest, der sich wieder gefangen hatte. »Feng-Imports liegt außerhalb des Kreises, und wenn sich tatsächlich elf Mitglieder der >Befreiungsfront 8o< innerhalb dieses Areals aufhalten, und Detwiler der Kopf des ganzen Unternehmens ist, muß es eine Kommunikationsmöglichkeit geben... vermutlich ein Funkgerät mit großer Reichweite, würde ich sagen.« Er nickte. »Ich finde, es ist an der Zeit, daß ich dem Gouverneur einen Besuch abstatte. Wir müssen das Risiko eingehen, zumindest einen Teil der Polizei von Hongkong einzuweihen, denn wir brauchen Fahrzeuge mit Funkortung, wenn wir eine Chance haben wollen, die Terroristen aufzuspüren. Wir brauchen Unterstützung; die Verantwortung ist einfach zu groß für eine Handvoll Leute.« Er griff nach der Serviette. »Ich hoffe. Sie haben nichts dagegen, wenn ich das als Beweis mitnehme. Wer weiß, wie Seine Exzellenz reagiert, wenn... «
Mr. Hitchens lächelte verständnisvoll. Aber selbstverständlich! Nehmen Sie sie nur.« ;
Robin faltete die Serviette zusammen und schob sie in sein Jackett, das über dem Stuhl hing, als das Telefon klingelte. Er ging zum Schreibtisch und hob ab. »Ja?«
Er hörte zu und notierte etwas auf dem Block, der vor ihm lag. »Tausend Dank.« Er legte auf und wandte sich an Mrs. Pollifax: »Es ging um diesen Donald Chang, bei dem Sheng Ti das Päckchen mit Diamanten abgegeben hat... Gestern abend habe ich meine Dienststelle in Paris angerufen, weil ich dachte, es sei besser, wenn sie sich bei der hiesigen Polizei offiziell nach diesem Burschen erkundigt. Das war eben der Rückruf aus Paris.
Donald Chang arbeitet in der Gepäckaufbewahrung am Kai Tak Flughafen.«
»Aha!« machte Mrs. Pollifax.
Robin schlüpfte in sein makelloses schwarzes Leinenjackett und nickte. »Du sagst es. Der ideale Arbeitsplatz für jemanden, der für einen Schmugglerring arbeitet! Und das Päckchen mit Diamanten von Feng-Imports war sein Anteil... Ein weiterer kleiner Leckerbissen, an dem Seine Exzellenz zu knabbern haben wird.«
Er hob lächelnd die Hand zum Abschied. »Ich bin schon weg... Wünsche eine angenehme Hafenrundfahrt. Bis später!«
11
An diesem Morgen war der Himmel über Hongkong bewölkt. Ein Dunstschleier lag über dem Hafen und ließ die Flanken der umliegenden Berge in einem weichen, undeutlichen Licht erscheinen. Ein kühler, böiger Wind fegte über das Wasser, und Mrs. Pollifax fröstelte leicht, als sie an Deck der Barkasse Platz genommen hatte. Die Lampen wurden ausgeschaltet, und ohne ihren strahlenden Glanz wirkte das sonst so leuchtende tropische Grün stumpf und kraftlos. Erdfarbene Brauntöne, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, herrschten vor und erdrückten das Grün und verliehen der Landschaft eine düstere Melancholie, die nur hie und da von dem Orange eines Ziegeldachs an den bewaldeten Berghängen oder von der schneeweißen Fassade eines neu errichteten Hochhauses aufgehellt wurde.
Mrs. Pollifax hatte sich Ruthie und Mr. Hitchens nicht allein aus purem Interesse für die Sehenswürdigkeiten der Stadt angeschlossen, sie hatte auch rein praktische Gründe dafür: Eine Hafenrundfahrt war die beste Gelegenheit, die Beretta für immer verschwinden zu lassen. Sie empfand keinerlei Gewissensbisse bei ihrem illegalen Vorhaben; schon vor allem deshalb nicht, weil sie im Augenblick keine, auch für die Polizei befriedigende Erklärung parat hatte, wie sie in den Besitz der Mordwaffe gekommen war. Sie mußte das Ding einfach loswerden. Natürlich interessierte sie auch, wie Ruthie und Mr. Hitchens miteinander zurechtkamen, denn etwas derart Ungewöhnliches, wie das zufällige Sichwiederfinden zweier Menschen - Tausende Kilometer von zu Hause - erregte ihre Neugierde. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammentreffens nach Jahren der Trennung, in einer Hotelhalle auf der anderen Seite der Welt, war nach ihrem Dafürhalten bestenfalls eins zu fünf Millionen, und Mrs. Pollifax war schlichtweg entzückt, Zeuge einer solch rührenden Schicksalsfügung zu sein.