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Offenbar erging es Ruthie nicht anders, denn sie sah an diesem Morgen wesentlich jünger aus, als Mrs. Pollifax sie in Erinnerung hatte - ein Umstand, der sicherlich nicht allein auf die rote Leinenhose, die leuchtend rote Bluse und das rote Halstuch zurückzuführen war, die sie trug. Sie schien gänzlich verwandelt, wie es oft bei Frauen der Fall ist, wenn sie fühlen, daß sie umworben werden. Sie nannte Mr. Hitchens »Hitch«, was Mrs. Pollifax belustigte und wohl auch etwas verwirrte, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihn anders als Mr. Hitchens zu nennen. Sie versuchte sich auszumalen, wie er wohl gewesen war, als sich die beiden in der Highschool begegneten, und ein Lächeln umspielte ihren Mund: Mr. Hitchens ohne sein pedantisches Gehabe, dafür jedoch um einige Nuancen schüchterner und mit einem Schuß mehr jungenhafter Abenteuerlust - wie sie bei ihrem gemeinsamen Ausflug in die Neuen Territorien wieder aufgeblitzt war -, fünf Kilo leichter und ohne die grauen Schläfen, war damals sicher ein attraktiver Junge gewesen... »Worüber lächeln Sie?« fragte Ruthie und versuchte, den Wind und die Motoren der Barkasse zu überschreien.

Sie hatten auf dem Achterschiff Platz genommen, um vor der Gischt geschützt zu sein, die über den Bug sprühte, als sie zwischen Fischkuttern, Sampans, Vergnügungsbooten, Frachtschiffen und malerischen Dschunken hindurch in den offenen Hafen hinaustuckerten. Ehe Mrs. Pollifax antworten konnte, rief Mr. Hitchens: »Kaffee? Sie haben soeben die Bar geöffnet.«

»O ja - gern«, erwiderte Mrs. Pollifax, und als er leicht schwankend über das Deck balancierte, sagte sie zu Ruthie gewandt: »Ich habe eben überlegt, wie er wohl damals war, als Sie zusammen in der Highschool waren.«-

Ruthie lachte. »Er war ein Bücherwurm und sehr ernst - und er war wohl überzeugt, daß es unmöglich sei, Football und das Interesse für Psychologie unter einen Hut zu bringen...«

»Und Sie haben ihn geliebt.«

Verlegen sah Ruthie sie an und blickte dann schnell zur Seite. »Ja.« Sie zögerte befangen und sagte dann mit gespielter Leichtigkeit: »Glauben Sie, daß... naja, daß man ein erloschenes Feuer wieder entfachen kann?«

Mrs. Pollifax lächelte. »Ich sehe nicht ein, wozu das nötig sein sollte«, erwiderte sie. »Es ist doch interessanter und sehr viel amüsanter, von Neuem zu beginnen.«

»Sie meinen...« Ruthie war betroffen. »Sie meinen, es habe keinen Sinn, alte Geschichten aufzuwärmen, und es sei besser, mit einem anderen von Neuem zu beginnen?«

Mrs. Pollifax berührte ihre Hand. »Ganz und gar nicht. Vorausgesetzt, wir reden von Mrs. Hitchens und Ihnen - und ich wüßte nicht, über wen wir sonst sprächen -, dann glaube ich, daß das, wodurch Sie sich damals zueinander hingezogen fühlten. Sie auch heute noch verbinden kann. Ich wollte nur sagen, daß es ein großer Fehler ist zu glauben, man könnte dort weitermachen, wo man aufgehört hat. Schließlich haben Sie sich beide verändert und sind nicht mehr dieselben wie damals.«

»Was ihn damals zu mir hinzog«, seufzte Ruthie trübsinnig, »war seine Suche nach einer Mutterfigur, meint mein Psychiater. Dieser Phase ist er entwachsen und versuchte dann mit Sophie und Rosalie seine verlorene Jugend nachzuholen.«

Mrs. Pollifax lachte hell auf. »Die typische Lehrbuchinterpretation! Ich glaube eher, daß er bei den beiden zuviel des Guten an jugendhafter Unbekümmertheit gefunden hat und schließlich selbst die Mutter spielen mußte. Die Art, wie er darüber erzählte, erweckte bei mir den Eindruck, daß ihn dies nicht erfüllt und sehr schnell gelangweilt hat. Mit solch jungen Dingern gemeinsame Interessen oder auch nur ein Gesprächsthema zu finden, ist oft sehr schwer, finde ich. Ich zum Beispiel könnte mir absolut nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzuleben, der nichts von den Schrecken des Kennedy-Mords mitbekommen hat oder nicht einmal weiß, wer Clark Gable war.«

»Sie machen mir Mut«, lachte Ruthie. »Meine Bedenken schmelzen wie Schnee in der Sonne.«

Mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen sah Mrs. Pollifax sie an. »Bedenken - Ängste?« fragte sie, griff nach Ruthies Hand und drückte sie kurz. »Wissen Sie, was ich denke? Ich bin überzeugt, er sieht Sie mit völlig neuen Augen, und offenbar ist er selbst am meisten davon überrascht... Es liegt also ganz bei Ihnen. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie damals aus der neuen Situation machten? Oh, danke«, sagte sie zu Mr. Hitchens, der mit drei Plastikbechern Kaffee zurückkehrte.

»O ja«, erwiderte Ruthie voller Stolz. »Ich habe in Boston eine wunderschöne Wohnung - in einem sehr alten Haus. Ich unterrichte jetzt in der fünften Klasse, nicht mehr die Kleinsten wie früher, und ich reise sehr viel.«

»Und wie sie reist!« mischte sich Mr. Hitchens ein und lehnte sich nach vorne, um von ihrer Unterhaltung nicht ausgeschlossen zu sein. »Am Samstag fliegt sie nach Bangkok!«

Mrs. Pollifax nippte gedankenverloren an ihrem Kaffee und hörte nur mit einem Ohr auf das Gespräch der beiden über Reisen und über Boston. Sie fand, zwischen Ruthie und Mr. Hitchens war alles in Ordnung. Als der geeignete Augenblick gekommen war, erhob sie sich und schlenderte zur Reling. Sie öffnete ihre Handtasche und ließ die Pistole, mit der Inspektor Wi getötet worden war, ins Wasser fallen. Sie kehrte zu den beiden zurück und genoß den Rest der Hafenrundfahrt: die weiß schimmernden Strände der Repulse Bay, die schwimmende Wohnstadt der Sampans in Aberdeen... Doch immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Feng-Imports und zu Mr. Detwiler zurück und allmählich begann sie, beides von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten; vor allem eine Frage tauchte immer wieder aufs Neue in ihren Gedanken auf: Weshalb war Detwiler seit zwei Monaten nicht mehr zu Hause gewesen?

»Oh, Mrs. Irma Leer! «rief Mrs. O'Malley überrascht und strahlte über das ganze Gesicht. »Wie schön, daß Sie wieder einmal vorbeischauen!«

»Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax mit einem Lächeln. »Ich hatte ein paar Straßen weiter zu tun und dachte, ich seh' mal auf einen kurzen Blick bei Ihnen vorbei und... «

»Sie kommen gerade rechtzeitig, um eine Tasse Tee mit mir zu trinken«, erklärte Mrs. O'Malley, keinen Widerspruch duldend. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich war gerade dabei, mir eine Tasse einzugießen. Ihnen tun sicher die Füße weh, meine Liebe.«

>Kein schöner Zug, diese überaus nette Frau hinters Licht zu führen<, dachte Mrs. Pollifax und trat ein. »Ja - furchtbar«, bestätigte sie und registrierte im stillen beschämt, daß sie außer einem kurzen Spaziergang zum Hotel, um sich nach der Hafenrundfahrt umzuziehen, und einem opulenten Mittagsmahl, das sie mit großem Appetit verspeist hatte, an diesem Tag noch überhaupt keine Bewegung gehabt hatte. »Ich muß mir wirklich Ihren Vorschlag, einen Job als Haushälterin anzunehmen, noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, seufzte sie, »obwohl ich mit meiner Umfrage heute recht erfolgreich war.« Sie folgte Mrs. O'Malley in die Küche und legte, als sie Platz nahm, die Zeitung mit Alecs Bild nach oben auf den Tisch.

»Dieser arme Junge«, sagte Mrs. O'Malley, als sie den Tee eingoß und ihr Blick auf das Bild fiel. »Und er ist auch noch der einzige Sohn.«