«Oh?« machte Mrs. Pollifax. »Haben Sie...« Sie unterbrach sich, denn sie durfte jetzt keinen Fehler machen; die Angelegenheit erforderte ihr ganzes Fingerspitzengefühl. Andererseits mußte sie ein für allemal herausfinden, ob Alec nach seiner Entführung in diesem Haus gewesen war. »Sind Sie ihm etwa schon einmal begegnet?« fragte sie rundheraus.
»Nein, meine Liebe, das nicht«, antwortete Mrs. O'Malley und setzte sich ebenfalls an den Tisch. »Er war doch lange auf dem College in den USA und hat dort sein Studium sehr erfolgreich abgeschlossen. Er hat jetzt eine ganze Reihe lateinischer Worte vor seinem Namen.«
Mrs. Pollifax sah überrascht auf. »Aber das ist... Ich erinnere mich gar nicht, darüber in der Zeitung gelesen zu haben.«
»Es stand auch nicht in der Zeitung«, erklärte Mrs. O'Malley beschwichtigend. »Ich weiß das von seinem Vater -Gott sei seiner Seele gnädig. Er war sehr stolz auf seinen Sohn.«
»Sein Vater?« fragte Mrs. Pollifax entgeistert. »Sie kannten seinen Vater? Den Mann, dessen Leiche man gestern gefunden hat?«
Mrs. O'Malley nickte. »Er war sehr oft hier. Er und Mr. Detwiler waren Freunde. Er war ein furchtbar netter Mann, der Inspektor, und mein gefülltes Huhn liebte er über alles. Ich lasse es acht Stunden lang im Topf schmoren und...«
Mrs. Pollifax war wie betäubt. Mr. Detwiler und Inspektor Wi - Freunde? Die beiden Männer hatten sich nicht nur gekannt, sie waren Freunde gewesen! Ihr wurde beinahe schwindlig, während sie bewegungslos am Tisch saß und Mrs. O'Malleys Redefluß über sich ergehen ließ.
»... eine Füllung aus Kastanien, Kräutern und gehacktem Kohl, das ganze in Lotusblätter gewickelt...«
Mrs. Pollifax befeuchtete ihre Lippen, die sich mit einem Male spröde und trocken anfühlten, und murmelte mechanisch: »Klingt ja köstlich.«
»O ja, es ist wirklich etwas Besonderes«, stimmte Mrs. O'Malley zu.
»Sie könnten eigentlich ein Restaurant eröffnen«, schlug Mrs. Pollifax vor. »Das heißt, wenn Ihnen die Arbeit als Haushälterin bei Mr. Detwiler irgendwann langweilig werden sollte.« >Der Kreis schließt sich allmählich<, dachte sie und war bemüht, angesichts dieser von Mrs. O'Malley so beiläufig erwähnten verblüffenden Neuigkeit ihre Fassung zu wahren. Zwischen zwei der in diesen undurchsichtigen Fall verwickelten Männer hatte eine Verbindung bestanden! Sie waren sogar Freunde gewesen! Bei diesem Gedanken stieg erneut Erregung in Mrs. Pollifax auf... Die Frage war allerdings: Hatte der Inspektor seinem Freund gegenüber seinen Verdacht bezüglich der Korruption in den Reihen der Polizei und seine Sorge um die gestohlenen Pässe erwähnt, ohne zu ahnen, daß Detwiler selbst in diese Geschichte verwickelt war, und mußte deshalb sterben? - Oder hatte Detwiler selbst Inspektor Wi mit einer unbeabsichtigten Bemerkung auf die Spur gebracht, deren Verfolgung ihm schließlich das Leben gekostet hatte? Wie dem auch sein mochte, jetzt wußte sie zumindest - und das war der eigentliche Grund ihres Kommens gewesen -, daß Alec Wi nach seiner Entführung nicht in diesem Haus gewesen war. Doch die Tatsache, daß Detwiler und der ermordete Inspektor Freunde gewesen waren, verwirrte sie noch immer.
»Und Mr. Feng - war er auch bei Ihnen zu Gast?« fragte sie.
Mrs. O'Malley schüttelte den Kopf. »O nein. Er war nie eingeladen.« Ihr geringschätziger Ton ließ den Schluß zu, daß Mr. Feng nicht als potentieller Partygast betrachtet wurde.
Ihr Schwätzchen zog sich noch eine weitere halbe Stunde hin, und Mrs. Pollifax war krampfhaft bemüht, ihre Rolle als Irma Leer bis zum Ende durchzuhalten. Es war keine leichte Aufgabe, und als sie sich - Entschuldigungen murmelnd - zum Gehen anschickte, fühlte sie sich ausgelaugt und zum Umfallen müde. Unter der Tür verabschiedete sie sich und sagte: »Morgen werde ich wohl nicht mehr in dieser Gegend sein... Es war mir ein Vergnügen, Mrs. O'Malley. Ich nehme an. Sie wissen immer noch nicht, wann Ihr Arbeitgeber zurückkommt?«
Mrs. O'Malleys Miene hellte sich auf. »Sie werden es nicht glauben, aber er hat mir heute morgen durch den Botenjungen ausrichten lassen - der Junge, der immer seine Wäsche bringt -, daß dies die letzte Wäschesendung sei, die er benötige, und daß er hoffe, Ende nächster Woche nach Hause zu kommen.«
»Ende nächster Woche...«, wiederholte Mrs. Pollifax und schluckte kräftig. Dies war die zweite überraschende Neuigkeit. »Oh, wie schön für Sie...« Sie bedankte sich noch einmal für den Tee und strebte zufrieden der Straße zu. Sie war hergekommen in der Hoffnung, kleine Fische zu fangen. Statt dessen waren ihr zwei dicke Wale ins Netz gegangen.
Mrs. Pollifax traf Marko alleine in der Suite an, und als sie ihm ihre Neuigkeiten mitgeteilt hatte, nickte er nachdenklich. »Dann...«, überlegte er, »dann ist also möglicherweise Ende nächster Woche alles vorbei, und Robin hatte die richtige Nase mit seiner Vermutung, daß wir zum Finish, und nicht zu Beginn der Ereignisse hier auftauchten.« Er schüttelte den Kopf. »Wir kamen also - wie sagt man so schön - noch gerade rechtzeitig, ehe diese Suppe hier anbrennt...«
»Ja - hoffentlich. Wo steckt Robin eigentlich?«
»Davon habe ich nicht einmal den blassesten...«, erwiderte Marko und warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist bereits vier vorbei... Er war am Morgen beim Gouverneur, und zweifellos trifft er sich gerade mit dem Leiter des Sonderdezernats der Polizei, um ihn kurz zu informieren und den Einsatz von Fahrzeugen zur Funkortung zu besprechen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie diese Funkortung eigentlich funktioniert?« fragte Mrs. Pollifax.
»Sicher«, erwiderte Marko, der sich auf die Lehne der Couch gesetzt hatte. »Aber ich muß es kurz machen, denn ich habe die Schicht von halb fünf bis Mitternacht in der Dragon AUley; Sie müssen Robin also eine Nachricht hinterlassen, wenn Sie ihm Ihre sensationellen Neuigkeiten heute noch mitteilen wollen... Diese Fahrzeuge zur Funkortung sind Lieferwagen; außer dem Fahrer gehören noch zwei Männer zur Besatzung; letztere sitzen im geschlossenen Laderaum an den zahlreichen Antennen. Sie drehen die Antennen vorsichtig und können so die Richtung feststellen, aus der die Funksignale kommen. Durch das Peilen mit ihren Antennen ermitteln sie den Schnittpunkt der von verschiedenen Antennen aufgefangenen Signale, und schon haben sie den Standort des illegalen Senders.«
»Verstehe«, murmelte Mrs. Pollifax. »Und auf diese Weise machen wir ihr Versteck ausfindig.«
»Manchmal - ja«, bemerkte Marko trocken. »Aber nur wenn wir Glück haben und sehr schnell sind, denn illegale Sender funken in der Regel nie länger als zweieinhalb Minuten. Und meistens genügt das nicht, ihren Standpunkt zu orten.«
»Das sind natürlich nicht die besten Voraussetzungen«, stellte Mrs. Pollifax enttäuscht fest.
»So ist es«, bestätigte Marko. »Aber wenn sie länger als zweieinhalb Minuten senden, sind sie verwundbar; vor allem wenn wir überall in der Stadt Ortungsfahrzeuge im Einsatz haben. Bei diesem Spiel ist nichts einfach, und ein Fehler...« Er hob die Hand und fuhr sich mit einem Finger von links nach rechts über die Kehle. »Finis!«
»Ja«, antwortete Mrs. Pollifax bedrückt. »Gibt's was Neues von Ihren Leuten, die Feng-Imports beobachten?«
»Nichts. Ich persönlich glaube nicht, daß Eric der Rote noch einmal dort auftaucht, und ich würde meinen rechten Arm dafür hergeben, wenn ich wüßte, wo er sich aufhält.«
»Doch sicherlich nicht Ihren rechten Arm!« wandte Mrs. Pollifax ein. »Ist das nicht ein bißchen übertrieben?«
»Finden Sie?« erwiderte er und legte eine rhetorische Pause ein. »Dann werde ich Ihnen die Geschichte meiner Cousine Gena erzählen: Sie war achtzehn damals, vor drei Jahren, ein sehr aufgewecktes, frisches und sehr hübsches Mädchen. Nicht alle Frauen in meiner Familie sind hübsch, müssen Sie wissen; meist sind sie fett und haben einen Schnurrbart. Aber Gena war wunderschön - sie war etwas Besonderes.« In seiner Stimme lag plötzlich schneidende Kälte, als er fortfuhr: »Und dann ging sie eines Tages in eine Bank in Paris. Eine Bombe geht hoch, und es ist nicht mehr viel übrig von meiner Cousine Gena; zumindest nichts, das wir hätten begraben können.«