»Oh, Marko!« rief Mrs. Pollifax bestürzt.
»Ich mag Terroristen also nicht besonders«, erklärte er und griff nach einem Buch - >Die Bestimmung des Menschen< von Lecomte du Noüy, wie Mrs. Pollifax mit einem schnellen Blick feststellte -, um es in seine Tasche zustecken. »Ich bin soweit«, sagte er. »Sie werden wahrscheinlich ziemlich aufgeregt sein - jetzt, wo Cyrus nach Hongkong unterwegs ist?«
Sie nickte.
»Also viel Spaß dabei!« Er warf ihr einen Kuß zu, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
Nachdem Mrs. Pollifax Robin eine Nachricht geschrieben und ihm die Ergebnisse ihres Besuchs bei Mrs. O'Malley mitgeteilt hatte, blieb ihr nur mehr eine Entscheidung zu treffen: nämlich was sie zu Abendessen wollte und darüber hinaus die Vorfreude auf eine willkommen frühe Bettruhe. Doch ihr Tag war noch nicht zu Ende, nachdem sie es sich im Bett bequem gemacht hatte. Nun endlich fand sie Zeit und Muße, die Geschehnisse der vergangenen drei Tage zu überdenken und die Teile des Puzzles zusammenzufügen. Es gab eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten, die dringend einer Erklärung bedurften - von den Fakten ganz zu schweigen, die überhaupt nicht ins Bild passen wollten.
Wollten. Sollten. Sie war schon wieder damit beschäftigt, Drehbücher zu verfassen, stellte sie ärgerlich fest. Dies war genau die Art und Weise, in der das menschliche Gehirn gemeinhin arbeitet: Es verbindet objektive Tatsachen mit letztlich in der Vergangenheit entstandenen Annahmen und gelangt zu Schlußfolgerungen, die oft genug falsch sind.
Was sie jetzt brauchte, überlegte sie, war ein klarer Verstand; frei von Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen.
Sie ließ sich jedoch Zeit mit diesem Vorhaben, und ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem, was sie in den Tagen, die sie in Hongkong war, erlebt und in Erfahrung gebracht hatte: Mit ihrem Besuch bei Feng-Imports, mit Mr. Detwiler, charmant und ölig, in seinem schwarzen Seidenanzug und seinen goldenen Manschettenknöpfen - den Buddha, den er ihr geschenkt hatte, nicht zu vergessen -, mit Mr. Feng, der selbst wie eine aus Elfenbein geschnitzte Figur aussah, mit Sheng Ti und Lotus, mit Alec Wi, der spurlos verschwunden war, mit Mrs. O'Malley und mit ihrem geflüsterten Versprechen, das sie dem toten Inspektor beim Verlassen der Hütte gegeben hatte... Und dann verbannte sie alle Eindrücke aus ihren Gedanken und wartete.
Als sie eine geraume Zeit später die Augen wieder öffnete, flüsterte sie erregt: >Natürlich! Ich war ja mit Blindheit geschlagen!«
Mit einem Mal verstand sie, weshalb Detwiler zwei Monate nicht zu Hause gewesen war, und sie glaubte auch zu wissen, weshalb er ihr den Buddha geschenkt hatte. Sie griff nach dem Telefon und gab eine Telegramm an Carstairs in Baltimore auf. Nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, löschte sie das Licht, und noch ehe sie überlegen konnte, auf welche Weise ihr Verdacht einer Prüfung zu unterziehen sei, sank sie in einen tiefen und ruhigen Schlaf.
DONNERSTAG
12
Ein schrilles, erbarmungsloses Klingeln in ihren Ohren, das nur langsam in ihr Bewußtsein drang, weckte Mrs. Pollifax am nächsten Morgen. Vorsichtig öffnete sie ein Auge und sah, daß es Tag war. Sie öffnete das andere Auge und registrierte mit einem schnellen Blick, daß es erst neun Uhr war und das Klingeln also nicht von ihrem Wecker herrühren konnte. Sie tastete nach dem Telefon, und als sie den Hörer endlich zu fassen bekommen hatte, stellt sie erleichtert fest, daß das Klingeln aufhörte. »Hallo«, murmelte sie verschlafen.
»Spreche ich mit Mrs. Pollifax?« fragte eine sonore Männerstimme.
Mit einem Mal hellwach, setzte sich Mrs. Pollifax mit einem Ruck auf und versicherte der Stimme, daß sie Mrs. Pollifax sei.
»Hier spricht Detwiler von der Firma Feng-Imports. Sie erinnern sich vielleicht? Wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt.«
Sie hatte seine Stimme sofort wiedererkannt, doch sie hütete sich, dies zu erwähnen. »Ja, natürlich«, sagte sie herzlich. »Der Buddha, den Sie mir großzügigerweise geschenkt haben, ist einfach wunderschön.«
Nach kurzem Zögern fuhr Detwiler fort: »Um so schwerer fällt es mir. Ihnen den Grund meines Anrufs zu erklären. Es geht nämlich um diesen Buddha, Mrs. Pollifax.«
»Oh!« machte sie nur und hoffte inständig, daß ihrer Stimme die Erregung, die sie empfand, nicht anzumerken war.
»Ja - leider, Mrs. Pollifax. Offenbar habe ich mit der Wahl gerade dieses Buddhas einen Fehler begangen - zur Bestürzung Mr. Fengs. Dieser Buddha wurde im Auftrag eines japanischen Klosters in Kyota geschnitzt und muß natürlich geliefert werden. Wir haben erst jetzt bemerkt, daß ich Ihnen ausgerechnet diesen Buddha geschenkt haben muß, und... Es ist mir äußerst unangenehme, Mrs. Pollifax, das dürfen Sie mir glauben, aber ich muß Sie bitten, so freundlich zu sein, ihn mir zurückzugeben. Ich werde Ihnen selbstverständlich einen anderen dafür geben. Bitte entschuldigen Sie dieses...«
»Wie unangenehm«, murmelte Mrs. Pollifax, während sie in Gedanken die Bedeutung des soeben Gehörten abzuschätzen versuchte. Das Ergebnis, zu dem sie kam, war mehr als erfreulich.
»... dieses Versehen. Wie Sie wissen, haben wir sehr viele Buddhas, und... Ich versichere Ihnen, daß mir das alles sehr peinlich ist, aber ich muß Sie bitten, den Buddha noch heute morgen zurückzugeben, damit wir ihn verpacken und mit der Nachmittagsmaschine nach Japan schicken können. Wäre Ihnen das möglich?«
Dies klang wie eine flehentliche Bitte, was Mrs. Pollifax keineswegs entging, doch sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. »Aber selbstverständlich«, erwiderte sie herzlich. »Allerdings bin ich soeben erst aufgewacht und bin weder angezogen, noch habe ich gefrühstückt. Vor elf werde ich Ihnen den Buddha wohl schwerlich vorbeibringen können.«
»Das macht doch nichts. Und ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung«, sagte er, und die Erleichterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich darf Sie also um elf Uhr erwarten?«
»Um elf, ja ja«, sagte sie und legte auf. Sie blieb im Bett sitzen und ließ sich das Gespräch noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen. Sie nickte nachdenklich, denn jetzt konnte sie erkennen, wie sich die Teile des Puzzles zu einem vollständigen Bild zusammenfügten. Es verwunderte sie keineswegs, daß Detwiler nicht angeboten hatte, den Buddha selbst abzuholen - das hatte sie auch gar nicht erwartet.
Sie wählte die Nummer von Robins Suite und war erleichtert, als er sogleich abhob. »Allmählich kommt die Sache ins Rollen«, berichtete sie. »Ich hatte soeben einen Anruf von Mr. Detwiler. Könntest du mit Marko zu mir herunter kommen?«
»Ein Anruf von Detwiler!« rief Robin.. »Wir sind schon unterwegs!«
»Moment! Nicht so hastig! Gebt mir fünf Minuten, um mich zu waschen und anzuziehen«, sagte sie und legte auf. Sie hob den Hörer wieder ab, wählte den Zimmerservice und bestellte Frühstück für eine Person und Kaffee für drei, dann stand sie auf und kleidete sich an.
»Was hat er gesagt?« fragte Robin, als Mrs. Pollifax den beiden die Tür öffnete.
»Immer schön langsam, mein Freund«, mahnte Marko, der hinter Robin ins Zimmer trat. »Guten Morgen, Mrs. P.!«
»Guten Morgen«, erwiderte sie aufgeräumt. »Setzt euch; ich habe euch einiges zu erzählen. Mein Frühstück und Kaffee für uns alle muß gleich hier sein... Ich brauche eure Hilfe und eure Anwesenheit bei etwas, das erledigt werden muß, ehe ich mich mit Mr. Detwiler bei Feng-Imports treffe.« »Wie bitte?« polterte Robin los. »Bist du verrückt?! Du wirst natürlich nicht dorthin gehen!«