»Sie haben ja keine Ahnung...«, setzte Robin zu der Erklärung an, daß der Sender in den Rocksaum einer Frau eingenäht sei und folglich diese Frau hier sein müsse. Doch er unterbrach sich, als er sah, wie Harold Lei sich bückte und etwas aufhob, das wie ein flacher Kieselstein aussah.
»Ist er das?«
Als Robin den Sender in seine Hand gleiten fühlte, war ihm, als schnüre ihm die Angst die Kehle zu. »Sie haben sie!« stöhnte er. »Zu gerissen für uns... Welch ein Hohn, den Ackameter für uns hier liegen zu lassen! Es sei denn... « Er führte den Gedanken nicht zu Ende, denn sein Gehirn weigerte sich auszumalen, wie der in Mrs. Pollifax' Rocksaum genähte Sender auf das Trottoir vor dem Tempel gekommen war. Vage Vorstellungen von Gewalt verstärkten die Panik, die ihn ergriffen hatte. »Ich brauche ein Telefon«, bellte er. »Ich muß Ihren Vorgesetzten anrufen. Das ändert alles.«
»Im Wagen«, sagte Lei. »Eine direkte Leitung.«
Im Telegrammstil berichtete Robin Duncan dem Leiter des Sonderdezernats, den der Gouverneur als absolut zuverlässig charakterisiert hatte, von Mrs. Pollifax' Entfuhrung.
»Weshalb nur hat sie sich auf ein solch idiotisches Hazard-programm eingelassen?« knurrte Duncan. »Eine dumme Geschichte - das! Das wirft alles uber den Haufen, denn wenn die ein bißchen Druck ausuben, redet sie wie ein Buch und erzählt alles, was wir wissen.«
»Was nicht allzuviel ist«, bemerkte Robin duster.
»Genug, sie ihre Pläne ändern zu lassen - das Einzige, wovon wir wenigstens eine Ahnung haben.«
»Dank Mrs. Pollifax«, erinnerte ihn Robin.
»Wo sind Sie jetzt?«
»Vor dem Man Mo Tempel. Ich fahre zum Hotel zuruck.«
»Okay. Sagen Sie meinen Leuten, sie sollen wieder an ihren Job gehen. Wir hören später voneinander. Und... Kopf hoch, alter Junge!«
»Ja«, war alles, was Robin als Antwort zustande brachte, denn seine Gedanken waren damit beschäftigt, sich selbst zu verwunschen - seine Schwäche und seine Unentschlossenheit, die ihn gehindert hatten, Mrs. Pollifax entschieden zu verbieten, alleine zu gehen. Doch selbst wenn er entschlossener aufgetreten wäre, hätte das gar nichts bewirkt - stellte er grüblerisch fest -, ganz bestimmt nicht bei Mrs. Pollifax.
Er legte auf, wechselte ein paar Worte mit den beiden Männern und ging dann zum Renault. Bedrückt fuhr er zum Hotel zurück. Er schenkte sich die Mühe, seine Spur zu verwischen und mit dem Lastenaufzug zu fahren. Wenn tatsächlich jemand daran interessiert sein sollte, ihn zu verfolgen, dachte er grimmig, dann sollten sie nur kommen! Er würde ihnen mit Freuden die Zähne in den Hals rammen - und eine Kanone hinterher, und sie zwingen, ihn zu Mrs. Pollifax zu führen. Die Erkenntnis, daß sie erneut ausgetrickst worden waren, und Mrs. Pollifax sich in den Händen dieser Schurken befand, schien nur durch den Wunsch nach einer extrem riskanten Aktion erträglicher zu werden. In seinen Gedanken spukten die Worte Duncans >wenn die ein bißchen Druck ausüben, redet sie wie ein Buch und sagt ihnen alles, was wir wissen<.«
Druck! Ein sehr taktvoller Ausdruck für Folter.
Robin blieb vor der Front der Aufzüge in der Hotellobby stehen und drückte mechanisch die Knöpfe. Als endlich ein Aufzug kam und die Tür zur Seite glitt, stiegen Mr. Hitchens und Ruthie aus.
»Rob... Lars!« rief Mr. Hitchens erfreut, um sich sogleich schuldbewußt umzusehen, ob jemand seinen Versprecher bemerkt hatte, »Darf ich Ihnen Ruthie vorstellen. Ruthie, das ist... Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er und sah Robin forschend an.
Robin nickte bekümmert. »Sie haben Mrs. Pollifax!« Seine Worte trafen Mr. Hitchens wie ein Schlag, und Robin fühlte, wie Mr. Hitchens' Bestürzung Trost und sogar einen kleinen Hoffnungsschimmer in ihm aufkeimen ließ.
»Sie?« stammelte Mr. Hitchens. »Sie meinen...?«
»Ja.«
»O Gott.«
»Aber ich habe sie doch erst vor einer Stunde gesehen«, sagte Ruthie. »Was ist denn passiert?«
»Sie haben sie gesehen?« fragte Robin verblüfft. »Wo? Wann?«
»Sie stieg in ein Taxi - draußen vor dem Hauptportal«, berichtete Ruthie.
Robin legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wollen wir uns nicht einen Augenblick auf die Couch dort drüben setzen«, schlug er vor. »Ich würde gerne mehr darüber hören.« Als sie Platz genommen hatten, wandte er sich ungeduldig an Ruthie: »Also, erzählen Sie.«
Ruthie nickte. »Ich kam die Auffahrtsallee zum Hotel hoch und sah, wie Mrs. Pollifax durch die Glastür auf den Gehsteig trat. Offenbar blendete sie die Sonne, denn sie blieb eine geraume Zeit stehen und hielt zum Schutz ihre Hand vor das Gesicht. Dann ließ sie die Hand sinken und winkte mit der anderen ein Taxi herbei. Eines der Taxis fuhr an, stoppte vor ihr, und sie stieg ein. Es war genau eine Minute vor elf, und ich machte mich nicht bemerkbar, weil ich um elf mit Hitch verabredet war und es eilig hatte.«
»Sind Sie absolut sicher, Ruthie, daß der Wagen, in den sie stieg, ein ganz normales Taxi war?«
»Sie meinen, das ist entscheidend?« fragte Ruthie verwirrt. »Mein Gott! Lassen Sie mich überlegen... Sie stand da und wartete... Die Sonne blendete sie, und sie kniff die Augen zusammen. Und das Taxi...« Ruthie stockte. »Es ist merkwürdig... Als ich die Auffahrt heraufkam, fiel mir auf, daß drei Taxis vor dem Hotel warteten. Aber das Taxi, in das Mrs. Pollifax stieg, war keines der drei. Es kam... Ich weiß nicht, woher es so plötzlich kam.«
»Wie sah es aus?«
Ruthie legte die Stirn nachdenklich in Falten. »Rot - denke ich... wie alle Taxis. Mit einem Taxischild auf dem Dach.«
»Saß außer dem Fahrer noch jemand in dem Wagen?«
Ruthie schloß einen Augenblick die Augen. »Doch!« rief Ruthie erstaunt über ihr eigenes Erinnerungsvermögen. »Jetzt, wo Sie es sagen! Da waren die Umrisse einer Gestalt im Fond des Wagens... Und Mrs. Pollifax' Kopf ruckte herum, als sie eingestiegen war - als ob sie soeben erst bemerkt hätte, daß das Taxi besetzt war... Sie machte sogar Anstalten, wieder auszusteigen, aber das Taxi fuhr los und verschwand mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf der anderen Seite der Auffahrt.«
Ruthie sah Robin mit großen Augen an. »Ihr wird doch nichts geschehen?!« fragte sie besorgt.
»Das ist eine Frage, die allein Mr. Hitchens beantworten kann«, erwiderte Robin. »Aber ich muß jetzt dringend nach oben und die nötigen Schritte in die Wege leiten. Tausend Dank, Ruthie; vielleicht hilft uns das weiter.«
Er eilte zu den Aufzügen und fuhr nach oben, um Marko die Hiobsbotschaft zu überbringen.
Um vier Uhr nachmittags war Kruggs Schicht zu Ende, und er fiel ins Bett, um ein paar Stunden zu schlafen.
Witkowski übernahm seinen Posten bis Mittemacht.
Ein Taxi, das um zehn Uhr früh in der Gegend der Causeway Bay als gestohlen gemeldet worden war, wurde um fünfzehn Uhr verlassen in der Hennessy Road aufgefunden. Doch vor allem - und dies war das Wichtigste - trafen im Laufe des Nachmittags erste Informationen zur Person des Mr. Charles Yuan Feng, Eigentümer der Firma Feng-Imports in der Dragon Alley 311/2, ein. Jede dieser Informationen war äußerst interessant.
Feng war für die Polizei von Hongkong kein Unbekannter. Wie aus den Unterlagen der Polizei hervorging, war er aus Shanghai, wo er in unbekannter Funktion in den Diensten des Generals Tschiang Kai-scheck gestanden hatte, in Begleitung seines Bruders Weng Feng nach Hongkong gekommen. Damals, in den 50er Jahren, hatte man den Verdacht gehegt, daß einer der beiden Brüder mit dem nationalchinesischen General Koi Suiheong in Verbindung stehe, der unter der chinesischen Bevölkerung Hongkongs seine Propaganda mit dem Ziel betrieb, die Rückkehr der Nationalchinesen auf das Festland vorzubereiten und Mao zu stürzen.
1967 war Weng Feng in Hongkong als nationalchinesischer Agent und Saboteur verhaftet worden, und die Polizei hatte in seiner Wohnung ein ganzes Waffenarsenal beschlagnahmt. In aller Stille war Weng 1968 nach Taiwan abgeschoben worden, wo er heute noch lebte.