Das Interesse der Polizei an Mr. Charles Yuan Feng hatte nachgelassen. Man war davon ausgegangen, daß Weng Feng das schwarze Schaf der Familie war, und betrachtete seither den Fall als abgeschlossen. Trotzdem war Mr. Fengs Name nicht aus der Kartei gelöscht worden.
Robin runzelte unbehaglich die Stirn. »Ist das nun von Bedeutung - oder nicht? In Hongkong wimmelt es von Nationalchinesen, der Nationalfeiertag im Oktober wird noch immer gefeiert, und es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein Komplott irgendwelcher Politamateure gegen Rotchina aufgedeckt wird.«
»Aber hier haben wir es sicher nicht mit einem Komplott von Amateuren zu tun«, stellte Marko fest. »Und nichts deutet auf einen Zusammenhang mit der Chinafrage hin.«
Robin nickte. »Das Ganze ist mir unbegreiflich. Übrigens findet in diesen Tagen wieder ein Treffen zwischen Großbritannien und Rotchina statt, wie in der Zeitung von heute nachzulesen ist, um über die Übergabebedingungen von Hongkong im Jahr 1997 zu verhandeln.« Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. »Die Kolonie wird an Rotchina abgetreten und nicht an Taiwan - wie ursprünglich vorgesehen... Insofern könnte ich mir durchaus vorstellen, daß die Absicht, Hongkong - das kapitalistische Zentrum Ostasiens - zu einer unbedeutenden Kommune eines kommunistischen Staates zu machen, manchen Leuten vor Wut das Blut in den Kopf steigen läßt.«
»Aber doch nicht Eric dem Roten und der >Befreiungsfront 8o<«, sagte Marko skeptisch.
Es gab keine Spur, die in diese Richtung verlief; mit Ausnahme einer interessanten, vielleicht aber bedeutungslosen Notiz in der Polizeiakte der Feng-Brüder, die die Verbindung mit nationalchinesischen Reaktionären möglich erscheinen ließ: Mr. Fengs Bruder, der als nationalchinesischer Agent ausgewiesen worden war, war mit einer Frau namens Xian Sutsung verheiratet gewesen, und auf der Liste, die sie in Mrs. Pollifax' Buddha entdeckt hatten, war unter anderen der Name Xian Pi gestanden.
>Ein Neffe vielleicht?< überlegte Robin, als er sich auf dem Weg nach unten befand, um im Restaurant eine Kleinigkeit zu essen. Doch dies allein bewies nichts - außer daß sich auch Chinesen terroristischen Vereinigungen anschließen konnten. Nichtsdestoweniger war es ein interessanter Aspekt. Für ihn persönlich waren seit der Vertreibung Tschiang Kaischecks vom chinesischen Festland und der Errichtung einer >proviso-rischen< Regierung in Taiwan Ewigkeiten vergangen. Tschiang Kaischeck war schon lange tot, und auch Mao war inzwischen gestorben... Doch andererseits wußte Robin sehr wohl, daß alte Konflikte und Feindseligkeiten weiter schwelen konnten und oft erst nach Generationen wieder ausbrachen. Die Geschichte war voll von Beispielen dafür. Friedensverträge und Grenzkorrekturen nach Kriegen, die ohne Rücksicht auf religiöse, ethnische und nationale Zugehörigkeiten zustande gekommen waren, bargen Zündstoff für neue Konflikte: Kurden gegen Türken, Sikhs gegen Hindus, Serben gegen Kroaten, Drusen gegen Christen... Und ganz sicherlich beharrte auch Taiwan noch Jahrzehnte nach der Vertreibung darauf, die einzige rechtmäßige Regierung Chinas zu sein.
Als Robin den Speisesaal betrat, warf er einen Blick auf seine Uhr; es war bereits kurz nach sechs. Jetzt erst fühlte er, wie sehr ihn die Ereignisse des Tages mitgenommen hatten. Auch mit dem besten Willen konnte er sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas Warmes gegessen hatte, und er verstand nun, weshalb Marko darauf insistiert hatte, daß er für eine Stunde den Platz vor dem Funkgerät räume und etwas esse gehe. Er würde Marko später wieder ablösen... Robin entschied sich für einen Tisch in der Ecke des Restaurants, ließ sich mit dem Rücken zur Wand auf einen Stuhl sinken und wickelte das Besteck aus der Serviette.
Undeutlich registrierte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung drei Tische weiter, die seine Aufmerksamkeit erweckte. Er sah auf und erkannte erst jetzt Ruthie und Mr. Hitchens, die ihm beide zuwinkten.
Ruthie beugte sich etwas vor und rief: »Sie sehen richtig erschöpft aus, und wir wollten Sie nicht weiter stören, aber hat man Mrs. Pollifax inzwischen gefunden?«
Glücklicherweise war der Speisesaal zu dieser Stunde nur spärlich besetzt, und nur wenige Gäste hatten diese unbesonnene Bemerkung gehört. Robin zwang sich zu einem höflichen Lächeln und schüttelte den Kopf.
Am Nebentisch blickte ein Mann von seinem Teller auf, sah von Robin zu Ruthie und wieder zurück und erhob sich dann. Er war auffallend groß gewachsen und trug einen etwas zerknitterten Anzug. Er hatte ein intelligentes Gesicht, müde, übernächtigte Augen und weißes Haar. Zu Robins Verwunderung steuerte der Mann direkt auf ihn zu, zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz.
»Wenn ich micht nicht irre, habe ich soeben den Namen meiner Frau gehört«, sagte er und musterte Robin mit einem prüfenden Blick. »Ich bin erst vor zwei Stunden hier angekommen und suche vergebens nach meiner Frau... Emily Pollifax.«
»Herrjeh!« rief Robin, mit einem Schlag seiner Lethargie entrissen. »Sie sind Cyrus Reed, - und heute ist Donnerstag!«
»Sowohl als auch«, bestätigte der Mann und fügte nach einigem Zögern hinzu: »Soviel ich verstehe, ist Emily verschwunden und steckt wieder einmal bis zum Hals in Schwierigkeiten. Eine Unart von ihr... Ich habe zwar nicht die leiseste Idee, wer Sie sind, aber wie es aussieht, bin ich gerade zur rechten Zeit hier eingetroffen... Also - was gedenken Sie zu unternehmen, um meine Frau wiederzufinden?«
14
Mit der nicht gerade ermutigenden Situation konfrontiert, in einem Taxi mit Mr. Feng zu sitzen, kam Mrs. Pollifax zu dem Schluß, daß Vorsicht der ratsamere Teil der Tapferkeit sei. Sie versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen und zwang ihre Lippen zu einem höflichen und erwartungsfrohen Lächeln - ganz so, als hätte Detwiler in seiner zuvorkommenden Art ihr ein Taxi geschickt, und Mr. Feng hätte sich freundlicherweise bereit gefunden, sie abzuholen. Tatsächlich fiel ihr auch gar nichts ein, das sie hätte sagen können; zumindest nichts, das sie nicht belastet oder gar verraten hätte - wie zum Beispiel die Frage, wie um alles in der Welt es ihm gelungen sei, Feng-Imports zu verlassen, ohne daß Robin und Marko es bemerkt hatten, oder die Frage, wo Mr. Detwiler sei.
»Ich bemühe mich stets, pünktlich zu sein«, plauderte sie drauflos und versuchte ihrer Panik Herr zu werden. »Es ist einfach ein Akt der Höflichkeit den anderen gegenüber -finden Sie nicht auch?«
Wie nicht anders zu erwarten, ignorierte Feng diesen meisterlichen Schachzug taktischer Konversation. Das Taxi verließ die Queen's Road Central und bog in eine enge Straße mit ausgeprägtem chinesischen Charakter ein. Es verringerte seine Fahrt, und Feng beugte sich zum Fahrer und deutete auf einen unscheinbaren Laden mit dem Schild >SCHNEIDER<. Direkt vor dem Eingang kam der Wagen zum Stehen.
Aus seinem weiten Ärmel zauberte Mr. Feng eine kleine Pistole; was Mrs. Pollifax mit einem vorwurfsvollen Blick quittierte. Ihr wäre es viel lieber gewesen, die Realität noch eine Weile ignorieren zu können, denn ihre Gedanken weigerten sich beharrlich einzugestehen, daß sie in eine Falle gegangen war... Sich auf eine solche Situation einzustellen, erfordert seine Zeit, dachte sie, doch die Waffe in Fengs Hand machte ihr unmißverständlich klar, daß sie diese Zeit nicht hatte.
»Steigen Sie aus - schnell!« sagte Feng ruhig. »Lassen Sie den Buddha auf dem Sitz liegen. Wir haben nur fünf Minuten und keine Sekunde länger.«
>Fünf Minuten - wofür?< dachte Mrs. Pollifax beklommen, und da sie keine Möglichkeit für eine Flucht sah, legte sie das Paket auf den Sitz. Während sie noch damit beschäftigt war, Fengs Absichten zu ergründen, wurde sie bereits durch die offene Tür der Schneiderei gestoßen. Der Laden war winzig. Ein Mann stand an einer dampfbetriebenen Bügelmaschine, und vier Frauen waren damit beschäftigt, Ärmel von Seidenjacketts anzunähen. Im Hintergrund des Raums erkannte Mrs. Pollifax zwei mit Vorhängen abgetrennte Umkleidekabinen. Keiner der Anwesenden schien überrascht, Mr. Feng und sie hier zu sehen. Ohne ein Wort oder den Anflug eines Lächelns erhob sich eine der Frauen von ihrer Nähmaschine und ging zu den Umkleidekabinen. Sie hatte ein mürrisches, hartes Gesicht, das Mrs. Pollifax ohne Regung und ohne das geringste Interesse anstarrte.