»Ziehen Sie sich aus«, sagte die Frau.
»Wie bitte?« fragte Mrs. Pollifax ungläubig.
»Schnell!« sagte die Frau. »Alles!«
Offensichtlich hatte man sie erwartet, und wie ihr der Druck von Fengs Pistole zwischen ihren Schulterblättern unmißverständlich klarmachte, war jeder Widerstand zwecklos. Mrs. Pollifax ging in die Kabine, zog sich aus und reichte Stück für Stück ihre Kleider nach draußen. Als sie damit fertig war, trat die Frau zu ihr in die Kabine und unterzog sie einer nicht geraden sanften Leibesvisitation.
>Das hier<, dachte Mrs. Pollifax düster, >geschieht Tag für Tag irgendwo auf unserer Erde - wahrscheinlich sogar jede Stunde... Und vielleicht ist es nur recht und billig, daß auch ich erfahre, wie man sich dabei fühlt... Es ist abscheulich und erniedrigend!< dachte sie und fühlte, wie der Zorn in ihr aufstieg.
Als alles vorüber war, wurden ihre Kleidungsstücke in die Kabine geworfen, und Mrs. Pollifax war keineswegs überrascht, daß der Sender in ihrem Rocksaum verschwunden war. Das also war der Grund gewesen, weshalb sie in dieser Schneiderei haltgemacht hatten. Während man sie zum Taxi zurückbrachte, dachte Mrs. Pollifax an Krugg, der in der Dragon Alley saß und noch immer vergebens auf ihre Ankunft wartete, und an Robin und Marko, die wahrscheinlich gespannt dem Summen des Ackameters lauschten, der seine Signale nun aus einer Schneiderei sendete.
Hierin allerdings irrte sich Mrs. Pollifax, wie sie selbst feststellen mußte, als das Taxi in der Nähe des Man Mo Tempels anhielt und Mr. Feng dem Fahrer das winzige elektronische Gerät in die Hand drückte. Der Mann, den er Carl genannt hatte, stieg aus, und Mrs. Pollifax mußte mit ansehen, wie er den Ackameter am Eingang des Tempels fallen ließ. >Mein Gott!<, dachte sie. >Sie haben an alles gedacht - an allesl<
Dies war der Augenblick, als Mrs. Pollifax die nackte Realität ihrer Situation in ihrer ganzen Tragweite bewußt wurde, und der Gedanke an die entsetzlichen Konsequenzen jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Sie war in die Falle getappt; allerdings nicht in die Falle mit Schlupflöchern, die sie in Feng-Imports erwartet hatte -mit Sheng Ti und Lotus im selben Raum und Krugg und Upshot in Rufweite... Sie befand sich in den Händen von Terroristen, und jede Hilfe in Gestalt von Robin, Marko, Carstairs oder der Polizei war ihr verwehrt. Sie war gänzlich auf sich alleine gestellt und hatte weder eine Ahnung, wo die Reise hinführen sollte, noch ob es für sie eine Rückfahrkarte gab. Ihre Chancen standen derart schlecht, mußte sie zugeben, daß wohl keine Versicherungsgesellschaft bereit gewesen wäre, eine Lebensversicherung mit ihr abzuschließen.
Und Cyrus war unterwegs nach Hongkong... Doch sie durfte jetzt nicht an Cyrus denken, denn wenn man sie unter Druck setzte, würde sie all ihre Kraft brauchen, nichts zu verraten. Der Gedanke an Cyrus würde ihre Konzentration nur stören, denn er verkörperte all die schönen, angenehmen Seiten des Lebens, die sie so sehr liebte und die jetzt nicht enden durften! Sie mußte zum Beispiel um jeden Preis verhindern, daß Mr. Feng und seine Freunde erfuhren, daß Interpol in die Sache verwickelt war, daß man Eric den Roten in Hongkong gesehen und ihn erkannt hatte, und vor allem, daß Funkortungswagen der Polizei durch die Stadt kreuzten, um das Funkgerät der Terroristen anzupeilen.
>Ich muß klaren Kopf behalten! <, dachte sie. >Ich muß unbedingt klaren Kopf behalten!<
Sie kurvten durch enge, überfüllte Straßen und waren oft gezwungen anzuhalten, weil ihnen dichte Schwärme von Fußgängern, Straßenverkäufer und Lastenträger den Weg versperrten. Zunächst hatte sie - als das Taxi in das Labyrinth der engen Gäßchen getaucht war - angenommen, sie seien irgendwo in der Nähe der Dragon Alley, doch dies hier war ein sehr viel älterer Bezirk Hongkongs, in dem ausschließlich Chinesen lebten - und ganz bestimmt nicht wenige...
Carl bog erneut nach rechts und steuerte das Taxi in ein Gässchen, das kaum breit genug für einen Personenwagen war. Er hielt an und griff nach hinten, um Mr. Fengs Tür zu öffnen. Ohne die Waffe aus der Hand zu nehmen, ging Feng um den Wagen herum und öffnete die andere Tür für Mrs. Pollifax. Einen Augenblick sah sie ihm direkt in das Gesicht, in ein Gesicht wie zerknittertes Pergament, und in seine sanften, geheimnisvollen, etwas zu eng stehenden Augen, und sie dachte: >]ung' Cassius sieht hager und hungrig drein; er grübelt zu viel... doch worüber? Welche Leidenschaft verbirgt sich hinter diesen unergründlichen Augen und treibt ihn zu dieser Tat?<
Sie stieg aus dem Wagen und stand vor einer verwitterten, ehemals wohl blau gestrichenen Tür. Das Taxi fuhr rückwärts aus dem Gäßchen, und Mr. Feng stieß die Tür vor ihr auf. Während sie sich in Bewegung setzte, schätzte sie die Entfernung und ihre Chancen, einen erfolgreichen Schlag zu führen, doch Feng war zu clever und peinlich darauf bedacht, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben. Vor die Wahl gestellt zwischen den ausgetretenen Stufen vor ihr und Fengs Pistole in ihrem Rücken, begann Mrs. Pollifax die dunkle, schmale und altersschwache Stiege zu erklimmen. Sie schien kein Ende nehmen zu wollen. Hinter den niedrigen Türen, die sie auf den drei winzigen Treppenabsätzen passierte, war kein Laut zu hören. Als sie das oberste Stockwerk erreicht hatte, sprang eine der Türen auf, und grelles Licht flutete über die staubigen Bohlen des Flurs. Mrs. Pollifax blieb abrupt stehen und blinzelte erschreckt in das Licht.
»Übernimm sie«, sagte Feng zu dem Mann, der im Türrahmen auftauchte, und schlurfte die Treppe wieder hinab.
Mrs. Pollifax musterte den Mann in der Tür mit zusammengekniffenen Augen und kam zu dem Schluß, daß sie dieses Gesicht nicht mochte; besonders seine groben und auffallend nordischen Züge mißfielen ihr. Er war blond, glattrasiert und braungebrannt, und sie fand, in seinen Jeans, T-Shirt und Sandalen sah er wie ein x-beliebiger HongkongTourist aus; nur die Pistole, die er auf sie richtete, paßte nicht in dieses Bild; ebensowenig wie der Blick aus seinen eiskalten blauen Augen. Sie wurde durch die Tür gezogen. Der Raum, in dem sie plötzlich stand, war voller Leute und vollgestopft mit irgendwelchen Dingen, überflutet vom grellen Neonlicht der Deckenbeleuchtung. Das Bild, das sich ihr bot, war schlichtweg chaotisch: Die Fenster waren mit vergilbtem Zeitungspapier abgedeckt, überall lagen Schlafsäcke ausgebreitet, und dazwischen sah sie zahllose aufeinandergetürmte Kabelrollen. An einer Wand waren unzählige Flaschen und Krüge, eine Blechtonne, ein Holzfaß und mehrere Holzkisten aufgereiht. In der hinteren Ecke des Raums entdeckte Mrs. Pollifax zwei Männer, die mit einem Schweißbrenner arbeiteten. Mit ihren Schutzbrillen sahen sie wie Marsmenschen aus. Ein blauer Funkenregen stob bis an die Decke. Drei andere Männer rührten in einer Blechtonne herum, offenbar damit beschäftigt, irgendein Gebräu zu mischen. Daneben saßen zwei Männer über einen Apparat gebeugt, der aussah wie ein Funkgerät, und diskutierten heftig, wobei sie immer wieder auf die Skalen und Armaturen deuteten. In dem Raum herrschte eine erstickende Hitze, und Mrs. Pollifax' Nase kräuselte sich beleidigt, denn der Gestank von heißem Fett, verfaulendem Abfall, Schweiß und ein alles durchdringender, heißender Geruch, von dem sie hoffte, daß es nicht Benzin sei, war schier unerträglich.