Die Pistole trieb sie auf die Wand links von ihr zu. Sie stolperte um die Ecke eines Stapels aus Holzkisten und blieb wie angewurzelt stehen. Mit einer Mischung aus Bestürzung und Erleichterung stellte sie fest, daß sie nicht allein sein würde. Zwei andere Gäste waren bereits vor ihr in dieses gastliche Haus gebeten worden. Sie hockten mit gefesselten Handgelenken auf dem Boden:
Es waren Detwiler und ein junger Mann, dessen Gesicht sie aus der Zeitung kannte - Alec Wi.
Detwiler hob den Kopf und brachte ein mattes Lächeln zustande, halb entschuldigend, halb resigniert.
»Guten Morgen - oder vielmehr guten Tag«, sagte sie höflich, und während ihre Handgelenke ebenfalls mit Stricken zusammengebunden wurden - so fest, daß ihr Tränen in die Augen stiegen -, ließ sie keinen Blick von Alec Wi.
Als der Blonde sein Werk vollendet hatte, wirbelte er sie herum und stieß sie zu Boden. Sie fiel zwischen Alec Wi und Detwiler, und der Stoß war so heftig gewesen, daß sie mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Mit einem verächtlichen Grinsen wandte sich der Mann ab und ging wieder in den anderen Teil des Raums zurück. Über den Rand der Kisten hinweg verfolgte ihn Mrs. Pollifax mit ihrem Blick, bis er nicht mehr zu sehen war.
Detwiler wandte den Kopf und sah sie an. Sie schwieg; ihr Kopf schmerzte, und sie hatte den unwiderstehlichen Wunsch, nach ihrer Beule zu tasten - doch das war natürlich nicht möglich. Jetzt erst fiel ihr auf, daß Tränen in Detwilers Augen standen. »Es tut mir leid«, sagte sie leise.
»Ich wüßte nicht weshalb«, erwiderte er und versuchte die Fassung zu wahren. »Schließlich war ich es, der... Sie angerufen hat. Es war...« Seine Stimme versagte. »Haben Sie den Buddha mitgebracht? Hat Feng ihn?«
»Einen Buddha - ja.«
Er stöhnte. »Jetzt haben sie den Buddha, jetzt bringen sie mich um. Sie konnten ja nicht wissen... wie denn auch... aber der Buddha hat ein Geheimfach... mit Plänen und Aufzeichnungen drin. Alles, was ich wußte, und... und... «
Der Schmerz in Mrs. Pollifax' Hinterkopf ließ allmählich nach, und mit scheinbar gleichgültiger Stimme fragte sie: »Weshalb haben Sie mir eigentlich diesen Buddha mit Geheimfach und Aufzeichnungen darin gegeben, Mr. Detwiler?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte... ich wollte... Im richtigen Augenblick wollte ich Sie anrufen... verstehen Sie? In Ihrem Hotel anrufen und Ihnen alles sagen. Ihnen sagen, was ich in dem Geheimfach versteckt habe. Ich dachte...« Er schniefte heftig, und erneut traten ihm Tränen in die Augen. Vergeblich versuchte er, sich mit den gefesselten Händen über das Gesicht zu fahren.
Mit müder Stimme sagte Alec Wi neben ihm: »Er hat Entzugserscheinungen. Gestern nacht haben sie ihn bis obenhin abgefüllt, um ihn ruhigzustellen, denn er hat wie am Spieß geschrien... Das ist jetzt allerdings scholl ziemlich lange her. Er braucht einen Schuß.«
Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung, Detwiler sei drogensüchtig. In dem Zustand, in dem er sich befand, war er absolut keine Hilfe. Und plötzlich begriff sie, daß sie ihm dadurch, daß sie die Notizen aus dem Buddha genommen hatte, einen großen Dienst erwiesen und sich selbst in eine äußerst prekäre Situation gebracht hatte. Sobald man entdeckte, daß die Aufzeichnungen aus dem Buddha verschwunden waren, würde sich die Aufmerksamkeit der Terroristen nicht mehr auf Detwi-ler, sondern ganz auf sie konzentrieren. Sie seufzte tief und bitter angesichts dieses wohl gröbsten und lebensgefährlichsten Fehlers, den sie je gemacht hatte. Wie konnte sie nur so naiv sein anzunehmen, man würde sie zu Feng-Imports bringen! Weshalb hatten Robin, Marko und sie selbst nicht einfach Detwilers Notizen kopiert und sie dann wieder in das Geheimfach gesteckt? Jeder wäre dann davon ausgegangen, sie sei eine unbeteiligte Touristin, doch mit ihrem scheinbar so cleveren Manöver, den Buddha zu vertauschen, hatte sie das Augenmerk Fengs auf sich gelenkt; nun würde man sie unter Druck setzen und versuchen, alles aus ihr herauszupressen. Ihre Aussichten waren alles andere als erfreuliche; vor allem dann, wenn die Terroristen sie verhören würden...
»Als wir uns kennenlernten, wußten Sie, wer ich bin?« wandte sie sich an Detwiler. »Und weshalb ich gekommen war?«
Detwiler nickte bekümmert.
»Weiß es auch Mr. Feng?«
»Wahrscheinlich«, schluchzte er, »...ich weiß es nicht... ich weiß nicht, was ich ihm alles gesagt habe. Er begann... ich glaube, er sagte, er begann damit, mir kleine Mengen Drogen ins Essen zu mischen... ins Mittagessen, im Laden... vor einigen Monaten bereits. Und dann... nach einer Weile wußte ich überhaupt nicht mehr, was los war. Es war alles so verschwommen. Und dann sagte er mir... er sagte mir...« Er schlug seine gefesselten Hände vor das Gesicht und weinte. »Er sagte mir, daß ich ein Teil seines Plans sei... das war an dem Tag, als er die Nadeln hervorholte und mir erklärte, daß ich nicht mehr nach Hause könne.« Er zog die Beine fest an den Körper und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Er versuchte sein Schluchzen und Zittern zu unterdrücken, doch seine Schultern zuckten heftig unter dem Weinkrampf, der ihn schüttelte.
Während Mrs. Pollifax das verzweifelte Häufchen Mensch betrachtete, versuchte sie sich jenen sanften und souveränen Mr. Detwiler in Erinnerung zu rufen, den sie am Montag, vor nicht mehr als vier Tagen, kennengelernt hatte; jenen Detwiler, der es gewagt hatte, gegen Feng aufzubegehren und ihr den Buddha gegeben hatte. Wochenlang muß er zwischen der Persönlichkeit, die er einmal gewesen war und seinem jetzigen desolaten Zustand hin und her getaumelt sein - überlegte Mrs. Pollifax -, stets von Feng und dessen Drogen abhängig. Heute trug er keinen schwarzen Seidenanzug und keine goldenen Manschettenknöpfe. Die Sandalen, in denen seine Füße steckten, waren zerissen, und die Hose und das Baumwollhemd, das er trug, zerknittert. Sie mußte an sein vornehmes Haus denken, an die eleganten Dinnerpartys, von denen Mrs. O'Malley gesprochen hatte, und sie fühlte, wie Mitleid in ihr aufstieg; Mitleid für dieses Wrack neben ihr, das von Detwiler übriggeblieben war.
Alec Wi warf ihr einen düsteren, anklagenden Blick zu. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte er. »Ich habe Sie gehört und ich habe ihn gehört...«
Erleichtert wandte Mrs. Pollifax ihren Blick von Detwiler. »Ich heiße Emily Pollifax, und ich nehme an, Sie sind Alec Wi?«
Verblüfft richtete er sich etwas auf. »Aber woher...?«
»Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Mr. Hitchens macht sich große Sorgen um Sie.«
»Hitchens? Sie kennen ihn? Hat man ihn auch entführt? Hat er meinen Vater gefunden?« Seine Stimme wurde lebhafter, doch in seinen Augen lag noch Mißtrauen.
Die linke Seite seines Gesichts war blutunterlaufen, seine Lippen geschwollen, und man hatte ihm einen Schneidezahn ausgeschlagen. Doch er war jung und ein zäher Bursche und erinnerte Mrs. Pollifax an einen CollegeStudenten der Boxstaffel, der eine Runde zu lang im Ring gestanden hatte. Sie fühlte den Zorn in Alec Wi; die Art von Zorn, zu der Detwiler nicht mehr fähig war. Dieser Zorn war es, der ihn aurrecht hielt, und Mrs. Pollifax war sich sicher, daß er die Wahrheit vertragen konnte. »Ihr Vater ist tot, Alec«, sagte sie behutsam.
Er zuckte zusammen und sog stockend die Luft ein. Dann schluckte er mühsam und nickte. »Ich fürchte, ich bin nicht einmal überrascht - jetzt nicht mehr. Ich glaube, ich habe schon vor drei Tagen die Hoffnung verloren. Eigentlich überrascht mich am meisten, daß ich selbst noch am Leben bin - nach diesen drei Tagen hier.,« Seine Stimme zitterte. »Haben sie... mußte er viel leiden?«
»Nein, sicher nicht«, sagte sie leise. »Auf seinem Gesicht lag... Überraschung. Die Kugel traf ihn in die Schläfe.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Es sollte wie Selbstmord aussehen. Ein Abschiedsbrief in seiner Handschrift und die Tatwaffe befanden sich in seiner Hand, aber ich habe beides verschwinden lassen.«