Er legte auf und knurrte gereizt: »Morgen - morgen nachmittag.« Mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Noch dreizehneinhalb Stunden... Er garantierte uns, daß morgen nachmittag ab fünfzehn Uhr Militärstreifen in Zivil den Peak und den Gipfelturm, das Elektrizitätswerk, den Rundfunksender und das Regierungsgebäude überwachen werden.«
»Und weshalb erst so spät?« wollte Cyrus wissen.
»Er hat mich darauf aufmerksam gemacht«, erwiderte Robin enttäuscht, »daß Terroristen ihre Anschläge ausnahmslos in den Stunden kurz vor den Abendnachrichten ausführen, um die größtmögliche Publizität zu erreichen. Er ist der Meinung, wir sollten dies bedenken und uns in Geduld üben - während er die erforderlichen amtlichen Schritte in die Wege leitet. Außerdem hat er darauf hingewiesen, daß es beinahe zwei Uhr morgens sei, daß der Verwaltungsrat verständigt und die Soldaten für ihre Aufgabe instruiert werden müssen.«
»Das dauert einfach zu lange!« brummte Cyrus bedrückt.
»Ja«, pflichtete ihm Marko bei, »aber es ist besser als nichts. Bitte - setzt euch doch wieder. Noch ist nichts verloren...«
Um ein Uhr dreißig rief Duncan erneut an und gab eine Liste der Hausbesitzer in der Dragon Alley durch. Marko notierte die Namen in fliegender Hast auf ein Blatt Papier. Mit einer Hand hielt er die Sprechmuschel des Telefons zu und drehte sich mit dem Papier in der Hand zu Cyrus und Robin um. »Eine Liste der Grundstücke und Häuser, die auf den Namen Charles Feng eingetragen sind; alle sorgfältig mit verschiedenen Firmennamen getarnt und... Mon dieu! Hört euch das mal an: Unter dem Namen Crystal Curio Enterprises gehört dem Mann die halbe Dragon Alley - Haus Nummer 31 1/2, Nummer 30 und Nummer 28! Das ist die Erklärung, wie er unbemerkt Feng-Imports verlassen konnte. Unter dem Firmennamen Emperor Gems Limited besitzt er ein Lagerhaus im Hafen, unter dem Firmennamen Green Jade Associates Limited gehört ihm eine Schneiderei. Möglicherweise ist das noch nicht einmal alles; das Sonderdezernat recherchiert weiter...« Er wandte sich wieder dem Telefon und Duncan zu: »Versuchen Sie es zuerst mit dem Lagerhaus und der Schneiderei... Aber mit äußerster Vorsicht.«
Im Verlauf der nächsten Stunde standen Telefon und Funkgerät still, und das Warten wurde für die, die nicht schlafen oder zumindest dösen konnten, zur Qual.
Um vier Uhr sprang Cyrus unvermittelt auf. »Jetzt habe ich endgültig die Nase voll, verdammt noch mal! « knurrte er und ging zu Sheng Ti hinüber, der noch immer auf der Couch schlief. Er rüttelte ihn am Arm. »Wachen Sie auf, Sheng Ti!« rief er, und während Sheng Ti sich aufsetzte und seine Augen rieb, schnarrte Cyrus in Befehlston: »Marko - Sie rufen Ihre Leute von der Dragon Alley zurück. Robin, Sie wecken Ihren dritten Mann, der nebenan schläft... Ich kann mir nicht helfen, doch dies hier erinnert mich zu sehr an eine Totenwache, und es ist die sinnloseste Vergeudung von Talenten, die ich je erlebt habe!«
»Sie übernehmen das Kommando, mein Freund?« lächelte Marko schwach.
»Ja, zum Henker!« knurrte Cyrus entschlossen. »Möglich, daß Sie deshalb Ihren Job verlieren, aber für mich steht das Leben meiner Frau auf dem Spiel! Ich schlage folgendes vor... « Er unterbrach sich und berichtigte: »Nein - wir werden folgendes tun.«
Ruhig doch bestimmt setzte er ihnen auseinander, welchen Plan er entworfen hatte, und was sie unternehmen würden, während der Gouverneur die nötigen Schritte in die Wege leitete und mühsam das Getriebe der Bürokratie in Bewegung brachte.
FREITAG
16
Um sie herum war tiefste Dunkelheit gewesen; dann ein winziger, trüber Lichtschein. An der Decke ein Haken, an den man sie mit ihren gefesselten Händen aufgehängt hatte - eine Handbreit über dem Boden. Und der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, hatte Fragen gestellt - zahllose Fragen... Dann hatte der Schrecken begonnen... Oder hatte sie das alles etwa geträumt? Sie bewegte sich, stöhnte laut auf und öffnete mühsam die Augen. Etwas hatte sich verändert: der dunkle Raum war nicht mehr da, und sie lag auf dem Fußboden eines hell erleuchteten Zimmers - zu hell, und sie mußte die Augen wieder schließen. Jetzt erst fühlte sie den brennenden Schmerz, der wie Feuer über ihren Rücken zuckte und etwas Warmes, Klebriges, das irgenwie damit zusammenhing. >Wie komme ich hierher?< dachte sie. >Und wo bin ich überhaupt?< Zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort wußte, und sie sank zurück in einen Zustand des Vergessens - halb Bewußlosigkeit, halb Erschöpfungsschlaf. ..
Als sie erneut zu sich kam und die Augen öffnete, begriff sie mit plötzlichem Entsetzen, wo sie war und weshalb: Sie war in Hongkong und man hatte sie verhört und geschlagen. Der Mann ohne Gesicht hatte sie geschunden und gequält, um sie zum Reden zu bringen. Sie fragte sich, weshalb er sie nicht getötet hatte, doch das würde vermutlich als nächstes geschehen... Überwältigt von Schmerz und Schwäche begann sie leise vor sich hin zu weinen und dachte an Cyrus, der zu ihr unterwegs war, und den sie nun nie mehr sehen wurde - nie mehr einen Morgen mit ihm, nie mehr einen Frühling, einen Sommer...
Doch sehr bald wurde sie wütend auf sich selbst; darauf, daß sie sich ihrem Schmerz und Selbstmitleid hingab, und sie dachte ärgerlich: >Ich erwarte ja nicht unbedingt saubere Laken, aber in einem schmutzigen Speicher in Hongkong zu enden? Das darf nicht seinl<
Das war schon viel besser. Wut ist immer gut.
»Gott sei Dank, Sie leben noch!« sagte ein Stimme von irgendwoher.
Sie öffnete die Augen und sah direkt vor ihrem Gesicht einen Fuß, der in einer zerschlissenen Sandale steckte, dann das dazugehörende Bein. Obwohl sie nicht die Kraft aufbrachte, den Kopf zu heben und den Besitzer der Stimme zu identifizieren, empfand sie grenzenlose Erleichterung: Es stimmte, sie lebte noch! Und nun fiel ihr auch Eric der Rote wieder ein und die Worte Alec Wis, der gesagt hatte, der Anschlag der Terroristen sei für den Morgen geplant. Ob es wohl schon morgen war? Sie mußte endlich aufhören, sich selbst zu bemitleiden. Sie mußte herausfinden, wieviel Uhr es war. Vorausgesetzt, sie konnte sich überhaupt bewegen. Sie mußte versuchen, von diesen verfluchten Brettern hochzukommen ...
Kurz entschlossen hob sie den Kopf, ignorierte das Dröhnen in ihren Ohren und ließ sich auch nicht entmutigen, als sich die Welt um sie herum immer schneller zu drehen begann. Das Karussell, auf dem sie saß, wurde langsamer, und sie erkannte den Stapel von Holzkisten wieder, hinter dem sie am Nachmittag gelegen hatte. Und sie erkannte Detwiler, der sie entsetzt anstarrte. »Detwiler«, murmelte sie, und der Klang ihrer eigenen Stimme erfüllte sie mit unsäglicher Freude und gab ihr neue Kraft. Nun drangen auch Geräusche in ihr Bewußtsein: Stimmen, Schritte, die hin und her eilten, ein Lachen und... Was hatte dieses Quietschen im Hintergrund zu bedeuten - so vertraut, als würde jemand Wäsche auf die Leine hängen -und doch so anders...? Natürlich - ja! Es war der Flaschenzug, an dem irgendwelche Gegenstände zur Straße hinabgelassen wurden. Sie erinnerte sich, daß Alec gesagt hatte, die Fenster seien mit einem Griff herauszunehmen, um den Lieferwagen zu beladen... Die Terroristen waren also bereits damit beschäftigt, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Folglich mußte der Morgen schon angebrochen sein. Wenn dem so war, dann war es an der Zeit, daß auch sie aktiv wurde. >Steh auf, Emily!< dachte sie. > Wenn du hier nicht hochkommst, bringen Sie dich um! Sie lassen dich ganz sicher nicht hier zurück! <