Der Gedanke versetzte sie in Panik, und sie überlegte, woher er gekommen war und und ob er der Wahrheit entsprach.
>Natürlich ist das wahr!< antwortete eine leise Stimme in ihrem Kopf. > Wenn du nicht gehen kannst, dich nicht einmal alleine auf den Beinen halten kannst, was nützt du ihnen dann schon? Lebend lassen sie dich hier bestimmt nicht zurück! <
Sie überlegte, wie sie auf den Gedanken gekommen war, die Terroristen würden sie mitnehmen... Hatte diese innere Stimme etwa gemeint, sie könnte als Geisel benutzt werden?
>Und weshalb nicht?< antwortete die Stimme noch einmal und fügte leicht ironisch hinzu: Vielleicht ist dir aufgefallen, daß dein Rücken zwar nur mehr Blut und rohesFleisch ist, aber dein Gesicht, deine Hände, Beine und Füße haben sie verschont. Sieht man von deinem Rücken ab, kann man dich durchaus der Öffentlichkeit präsentieren. <
Diese Überlegung erfüllte sie mit neuem Leben und spornte sie an. Sie mußte es einfach schaffen! Sie mußte sich aufsetzen und vielleicht... - wer konnte das schon wissen -... vielleicht konnte sie sogar auf die Beine kommen und unter Umständen sogar gehen? Wunder geschehen immer wieder, dachte sie, und so wie die Dinge lagen, würde sie sich im Augenblick auch mit einem kleinen Wunder zufriedengeben. Mehrmals atmete sie tief durch, wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt und sog erneut die Luft tief in ihre Lungen. Mit einer wahrhaft herkulischen Anstrengung, die ihr Tränen in die Augen trieb, rollte sie sich zur Wand und stemmte sich in eine sitzende Position. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, als ihr zerschundener Rücken die Wand berührte. Sie biß gerade die Zähne zusammen und hob ihre gefesselten Handgelenke, um einen Blick auf die Uhr zu werfen - sie stand auf sechs Uhr drei -, als eine Welle der Übelkeit in ihr aufstieg und ihren Magen zu einem Knoten zusammenpreßte, so daß sie sich heftig übergeben mußte.
Als es vorüber war, war sie in Schweiß gebadet; sie fühlte sich schwach und hundeelend, doch sie bezwang den schier unwiderstehlichen Wunsch, sich flach auf dem Fußboden auszustrecken, und wartete ab.
Minuten vergingen - oder waren es Stunden? -, ehe sie es wagte, die Augen wieder zu öffnen. Nun fühlte sie sich besser. Zwar war sie sich völlig im klaren darüber, daß ihre Situation weiterhin alles andere als vielversprechend war, doch allmählich begann ihr Gehirn wieder normal zu funktionieren. Sie erinnerte sich an eine Konzentrationstechnik, die sie im Karateunterricht bei Lorvale Brown gelernt hatte: die Mobilisierung von Energie und ihre Konzentration in jedem beliebigen Teil des Körpers - gewöhnlich in der Hand, die dann mit der Schnelligkeit und Wucht eines Geschosses zuschlagen konnte. Sie entsann sich der ungeheuer verblüffenden Wirkung, die diese Übung hatte, und sie begann sich auf ihren zerschlagenen Körper zu konzentrieren, um ihre letzten ungenützten Kraftreserven zu mobilisieren. Einbildung oder nicht - es funktionierte.
»Nun ist alles vorbei«, seufzte Detwiler neben ihr bitter. »Wir sind verloren. Sie brechen jeden Augenblick auf... Und um sieben Uhr ist der Victoria Peak bereits fest in ihrer Hand.«
Sie wandte den Kopf in seine Richtung und sah ihm direkt in die Augen. Sein Gesicht war eingefallen und grau, und Mrs. Pollifax fragte sich, ob Mrs. O'Malley ihn in diesem Zustand wiedererkennen würde.
»Hat man Sie zum Reden gebracht?« fragte er.
Ihre Gedanken tasteten sich zurück zu der Hölle, durch die sie gegangen war, und obwohl sich alles in ihr gegen die Erinnerung sträubte, zwang sie sich dazu. »Nein«, sagte sie. »Ich habe ihnen erzählt, der Buddha, den Sie mir geschenkt haben, hat mir so sehr gefallen, daß ich ihn nicht mehr hergebe wollte. Ich habe ihnen gesagt, ich hätte in einem Souvenirladen einen sehr ähnlichen Buddha entdeckt und dachte. Sie würden den Unterschied nicht bemerken.«
»Das haben Sie getan? Wie haben Sie das nur geschafft?« fragte er verblüfft. »Wir haben...«, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »...wir haben Ihr Schreien gehört... dreimal... und dann Ihr Stöhnen.«
Hatte sie etwa geschrien? Wenn er es sagte, mußte es wohl so gewesen sein...
»Es war - furchtbar!« stöhnte er, und Tränen stiegen ihm in die Augen und rannen über seine Wangen.
Dies war nicht die Hilfe, die sie erwartet hatte, und Mrs. Pollifax drehte den Kopf zur anderen Seite. Ihr Blick suchte Alec Wi. Er lag zusammengerollt auf dem Boden und schlief offenbar so tief, daß er von den Geräuschen und hektischen Aktivitäten um ihn herum nichts bemerkte. Sie reckte den Hals und konnte das weitoffene Fenster sehen, um das sich eine Traube von Männern geschart hatte, die auf die Straße hinabsahen, Anweisungen riefen und aufgeregt herumgestikulierten. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an dem Funkgerät hängen, das nur wenige Schritte von ihr entfernt auf einer Holzkiste stand.
Gedankenverloren betrachtete sie das schwarze Gehäuse auf der Holzkiste - keine drei Meter von den Männern entfernt, die sich am Flaschenzug zu schaffen machten.
Funkgerät... Was hatte Marko noch gesagt? »In einem Funkortungswagen sitzen außer dem Fahrer noch zwei Männer, die die Peilungsantennen bedienen... Wenn das Signal länger als zweieinhalb Minuten gesendet wird, ist es durch Drehen der Antennen möglich, den genauen Standort...« So ähnlich hatte sich Marko doch ausgedrückt?!
... Ist es möglich, den genauen Standort zu bestimmen!
Wenn ich doch nur die paar Meter bis zum Funkgerät kriechen könnte !< dachte sie verzweifelt. >Ich könnte den Schalter auf Sendung umlegen! Sie würden mich wohl kaum bemerken... Nicht, wenn ich dicht am Boden bliebe - hinter die Holzkisten geduckt... Der einzige riskante Augenblick wäre der, wenn ich mich aufrichten und vorbeugen muß, um den Schaller umzulegen. <
Falls sie überhaupt kriechen konnte... Und falls sie es schaffen würde, sich aufzurichten...
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war sechs Uhr fünfzehn, und es war durchaus möglich, daß sie nicht ein zweites Mal so viel Kraft mobilisieren konnte. Würde sie es überhaupt schaffen können?
Zweieinhalb Minuten waren eine lange Zeit, stellte sie fest, wahrend sie beobachtete, wie der Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr langsam um das Zifferblatt kroch. Doch nur wenn das Funkgerät zweieinhalb Minuten auf Sendung sein würde, hatten sie eine Chance, angepeilt und lokalisiert zu werden.
»Was haben Sie?« fragte Detwiler, der ihr angestrengtes Stirnrunzeln beobachtet hatte.
»Das Funkgerät...«, flüsterte sie.
»Was ist damit?«
»Ich habe nur überlegt, wenn ich da hinüber kriechen und auf Empfang schalten könnte... Für zweieinhalb Minuten nur...«
Er sah sie verständnislos an. »Was würde das schon helfen? Niemand würde uns hören.«
»Man würde uns hören«, entgegnete sie bestimmt. »Es hat sich eine Menge getan, Mr. Detwiler. Es sind Leute da draußen, die nur darauf warten, daß der Funk betätigt wird.«
Seine Augen wurden groß. »Sie meinen...? Leute, die Bescheid wissen?«
»Ja. Aber sie wissen nicht wann«, erwiderte sie. »Ihre Aufzeichnungen, die Sie im Buddha versteckt haben, sind in guten Händen. Ich muß unbedingt an das Funkgerät kommen! Falls die Männer am Fenster sich umdrehen, könnten Sie dann vielleicht irgendein Ablenkungsmanöver inszenieren? Das Gerät müßte..., es muß zweieinhalb Minuten auf Sendung sein.«
Er schwieg, und sein Gesicht war plötzlich ernst und nachdenklich. Das erste Mal, seit sie ihn hier wiedergetroffen hatte, erinnerte er sie an jenen Detwiler, den sie an ihrem ersten Tag in Hongkong kennengelernt hatte.