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Wo blieb nur der Funkortungswagen?!

Sie gemahnte sich zur Ruhe und hielt sich an dem Gedanken fest, daß sie immerhin noch am Leben war. Offenbar wurde sie als Geisel benutzt und würde deshalb wohl auch noch ein bißchen länger leben - falls niemand nervös wurde, falls alles gutging... Sie setzte sich direkt an eines der Fenster ohne Vorhänge und versuchte, mit dem Rücken nicht gegen die Lehne zu stoßen. Wo nur der Funkortungswagen blieb?

Neben ihr sagte Alec: »Die Sonne... Ich habe nicht mehr geglaubt, daß ich sie wiedersehen würde.«

»Ja«, sagte sie geistesabwesend und erinnerte sich, daß er bereits drei Tage in der Hand der Terroristen war. Vorsichtig warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Es war sechs Uhr fünfundfünfzig. Etwa dreiundzwanzig Minuten waren vergangen, seit Detwiler erschossen und das Signal unterbrochen wurde. >Die drei Minuten müssen doch gereicht haben? < dachte sie. Und plötzlich versetzte sie ein Gedanke in Panik: Was, wenn die Männer im Funkortungswagen schon zuvor aufgegeben hatten? Oder wenn sie um halb sieben für zehn Minuten eine Frühstückspause gemacht hatten?! Detwiler hatte sein Leben für diese zweieinhalb Minuten gegeben! Sie überlegte fieberhaft, ob sie die Sekunden richtig gezählt hatte, ob Marko mit den zweieinhalb Minuten recht gehabt hatte, ob inzwischen technisch verbesserte Funkgeräte entwickelt worden waren, die man nicht mehr orten konnte...

Die Zweifel nagten an ihren letzten, wegen des anstrengenden Abstiegs über die enge Treppe ohnehin über Gebühr beanspruchten Kräften. Mit Schrecken fühlte sie, wie das letzte Quentchen Energie in ihr schwand.

Jetzt stiegen die anderen in den Bus. Mrs. Pollifax zählte insgesamt sechs Männer. Carl setzte sich ans Steuer, und die übrigen verschwanden im hinteren Teil des Busses. Der Wagen setzte rückwärts aus dem Gäßchen und fuhr dann langsam eine der gewundenen Altstadtstraßen hinab. Mrs. Pollifax' Blick wanderte suchend über das Gewimmel der Menschen, die unterwegs zur Arbeit waren, über die zahllosen Handkarren, die bis obenhin mit Lasten beladen waren, und blieb für ein paar Sekunden an zwei alten Männern hängen, die unter einer Markise, wie zwei Inseln im Strom, mitten auf dem Gehsteig saßen und Mah Jong spielten. Der Freitagmorgen hatte unwiderruflich begonnen.

Doch nirgendwo auf der Straße konnte sie einen Lieferwagen entdecken oder ein Fahrzeug, das einem Funkortungswagen ähnlich sah.

Irgend etwas war schiefgelaufen - gründlich schiefgelaufen. Sie fühlte, wie die Last dieser Erkenntnis ihre Widerstandskraft zerbrach. Ihre letzten Kraftreserven hatte sie bereits mobilisiert, und nun - als sich ihre letzte Hoffnung in Nichts auflöste, forderte ihr Körper den Preis für das, was er erduldet hatte. Sie fühlte den fast unwiderstehlichen Wunsch, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

Über die Schulter hörte sie das Quaken eines Funkgeräts und die Stimme Eric des Roten. Einige Satzfetzen verstand sie: »Kaffeehaus, dritter Stock« und »bringt sie nach oben« und dann: »noch ungefähr acht Minuten«. Sie begriff, daß eine Vorhut der Terroristen den Gipfelturm bereits eingenommen und Geiseln in ihre Gewalt gebracht haben mußte. Nun bestand keinerlei Hoffnung mehr... Es war zu spät - zu spät... Sie schloß die Augen, um die gleichgültige Welt dort draußen nicht mehr wahrnehmen zu müssen und dachte an zu Hause, an Neuengland, an Mr. Lupalak, und daran, ob er das Rundfenster nun leicht asymmetrisch angebracht hatte oder nicht.

Als sie die Augen wieder öffnete, waren sie bereits auf der Peak Road, die zum Gipfel hinauf führte; ein unauffälliger, ziemlich abgetakelter VW-Bus, aus dessen Fenster eine Frau sah, mit Fahrrädern am Heck und Gepäck auf dem Dachständer. Doch das Reisegepäck bestand unter anderem aus einem Raketenwerfer... Ihr Blick wanderte über den Hafen, der bereits weit unter ihnen lag, und sie fragte sich, was Robin und Marko wohl im Augenblick machten. >Schlafen, natürlich<, dachte sie, denn schließlich war es erst kurz vor sieben. Wie ein Schock überfiel sie das Gefühl, gänzlich verlassen und einsam zu sein.

Über den Wipfeln der Bäume war bereits der Gipfelturm zu erkennen, und die runde Fassade des Restaurants im obersten Stock erinnerte sie mehr denn je an eine Raumkapsel. Das Funkgerät war verstummt, und Mrs. Pollifax konnte fast körperlich fühlen, wie die Spannung in dem engen Bus wuchs. Auch sie fühlte, wie Unruhe sie ergriff, denn sobald sie den Gipfel erreicht haben würden, würde sie wieder gehen müssen und sie hatte nicht vergessen, wie wenig diesen Leuten ein Menschenleben wert war.

»Ich kann das alles bald nicht mehr ertragen«, stöhnte Alec neben ihr leise. »Hört denn das nie auf?! Diese Ungewißheit -wie das alles enden wird?«

Wie eine Ertrinkende nach dem berüchtigten Strohhalm, griff sie nach der Möglichkeit, ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen; nicht so sehr aus Überzeugung, vielmehr um sich selbst von ihrer eigenen Verzweiflung abzulenken. Sie beugte sich zu ihm und legte beruhigend die gefesselten Hände auf seinen Arm. »Sehen Sie...«, begann sie und stockte. »Sehen Sie«, setzte sie erneut an und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen, »irgendwie ist doch alles ungewiß ... Und genau besehen, müssen wir damit jeden Tag aufs neue fertig werden... «

Ihre eigenen Worte schienen aus großer Entfernung an ihr Ohr zudringen; sie klangen hohl und dumpf, als säße sie in einer Höhle, tief unterm Berg, oder in einem feuchten, dunklen Verlies. Tief in ihrem Innern fühlte sie die drückende Last ihrer eigenen Niederlage und ein deprimierendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sich - wie sie sehr wohl wußte - aus vielen Faktoren zusammensetzte: die Reaktion ihres geschundenen Körpers, der Schock des Erlebten, Hunger und eine abgrundtiefe Müdigkeit sowie das Entsetzen über Detwilers Tod. Das Schlimmste jedoch war die Tatsache, daß das Funksignal ungehört geblieben war. Es gab nichts mehr, das sie tun konnte. Und das Wissen darum beraubte sie ihrer Fähigkeit, klar zu denken.

>Irgend etwas hat in meinem Kopf ausgesetz<t, dachte sie vage und stellte zugleich fest, daß ihr dies gänzlich gleichgültig war. Sollten dies Symptome einer geistigen Verwirrung, des sich ankündigenden Wahnsinns sein, so versprachen sie zumindest den Trost, die grausame Wirklichkeit nicht bei vollem Bewußtsein erleben zu müssen. Carl lenkte den VW-Bus auf den Parkplatz vor dem Gipfelturm. Stotternd erstarb das Motorengeräusch. Wie Mrs. Pollifax feststellte, standen bereits mehrere Wagen auf dem Parkplatz, deren Insassen inzwischen vermutlich alle Geiseln der Terroristen waren. Weit und breit war niemand zu sehen; lediglich ein einsamer Gärtner, ein junger Chinese, war unweit des Turms damit beschäftigt, Rosenbüsche zu stutzen. Sie hörte, wie die Terroristen im Fond des Wagens die Waffen aufnahmen. »Raus jetzt«, zischte sie jemand an, und als sie den Blick hob, erkannte sie Carl, der dicht vor ihr stand und eine Pistole auf sie und Alec richtete. Um die Schulter hatte er eine Maschinenpistole geschlungen, und an seinem Gürtel baumelten einige Handgranaten.

Mühsam stemmte sie sich aus dem Sitz und taumelte, gefolgt von Alec, aus dem Bus. Der nächste Akt dieses Alptraums hatte begonnen, und Mrs. Pollifax strebte, verbissen einen Fuß vor den anderen setzend, auf den Eingang des Turms zu. Hinter ihr hörte sie die Stimmen der Männer, die aufgekratzt durcheinanderredeten. Eine abrupte Bewegung links von ihr ließ Mrs. Pollifax zusammenschrecken, und mechanisch hob sie den Blick. Es war jedoch nur der Gärtner, der, einen halbgefüllten Sack hinter sich herschleifend, auf einen anderen Rosenstock zustrebte. >Du Narr!< wollte sie ihm zurufen. >Siehst du nicht, daß sie ganz Hongkong zu ihrer Geisel machen wollen? !< Doch sie besann sich eines Besseren und schwieg. So war nun einmal die Welt: Es würde immer einen Gärtner geben, der blind und ungerührt seine Rosen schnitt, während die Welt auf den Abgrund zutrieb.