Wie ein Kind wartete sie darauf, eine wunderbare Geschichte mit glücklichem Ausgang zu hören, die ihr dabei helfen würde, wieder ganz in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Robin lächelte ihr mitfühlend zu. »Na gut - schön... Zunächst mußt du dir jedoch das Bild vergegenwärtigen, wie wir alle ratlos und bis ins Mark frustriert die ganze Nacht in unserer Suite rumsaßen und entnervt auf ein Zeichen von dir warteten. Nur - es gab kein Zeichen von dir, und die Stunden, bis die Armee eingesetzt werden konnte, schienen endlos.
Es war Cyrus, der gegen vier Uhr plötzlich aufsprang und mitleidlos verkündete, daß wir uns alle wie verdammte Idioten benähmen, daß wir schließlich fünf ausgewachsene Männer seien und mit Witkowski, Krugg und Upshot sowie mit Dun-cans sieben Leuten des Sonderdezernats - falls dieser nichts gegen Freiwillige einzuwenden habe - eine recht schlagkräftige Truppe auf die Beine stellen könnten... «
»Wobei er sich gegen das Wort Freiwillige verwahrte«, warf Mr. Hitchens dazwischen.
»Na schön - Amateure«, gab Robin zu und konnte ein Grinsen nicht verbergen. »Amateure wie Cyrus, Mr. Hitchens, Sheng Ti und Ruthie...«
>Das klingt alles so wirklich - so real<, dachte Mrs. Pol-lifax, während sie aufmerksam zuhörte und keinen Blick von den Gesichtern ihrer Freunde ließ. Doch sie selbst fand noch immer nicht den Bezug zur Wirklichkeit, und nach wie vor schienen die Worte von weit her an ihr Oht zu dringen.
»Wenn ich mich recht erinnere«, berichtete Ruthie weiter, »hat Cyrus' Initiative endlich diesem quälenden Gefühl, völlig nutzlos herumzusitzen, ein Ende bereitet - und immerhin bestand die theoretische Möglichkeit, daß die >Befreiungsfront 8o< früher losschlagen könnte als erwartet.«
»Was sie dann ja auch getan hat«, erklärte Mr. Hitchens. »Mein Gott - wenn ich nur daran denke, was geschehen wäre, wenn wir nicht auf dem Peak gewesen wären...« Ruthie warf ihm einen warnenden Blick zu, und er verstummte taktvoll.
»Gott sei Dank griff Duncan den Vorschlag sofort auf«, fuhr Marko fort. »Ihm bereiteten die zehn Stunden, die wir noch auf den Einsatz der Armee warten sollten, ebensolches Unbehagen wie uns. Er war sogar bereit, mit dem Einsatzbefehl für seine Männer seinen Job zu riskieren; allerdings nur unter der Bedingung, daß wir äußerst professionell und mit der Annahme, die »Befreiungsfront 8o< werde tatsächlich zuschlagen, vorgehen würden.«
»Was keiner von uns für möglich hielt«, warf Robin dazwischen. »Außer Cyrus.«
»Richtig«, brummte Marko. »Trotzdem versicherten wir Duncan natürlich, daß wir davon überzeugt seien, und er gab uns freie Hand und schloß sich mit seinen sieben Männern an. Wir setzten uns zusammen und kamen - vor allem aufgrund des Wortes >Kommandozentrale< auf dem Zettel im Geheimfach des Buddhas - zu dem Schluß, daß wir unsere Aktivitäten auf den Gipfelturm des Victoria Peaks zu konzentrieren hatten... «
Robin nickte. »Wir postierten Duncans Männer auf dem Dach des Turms... «
»Das Restaurant ist nämlich bis zwölf Uhr geschlossen«, erklärte Ruthie. »Nur das Cafe im dritten Stock war geöffnet.«
»Richtig«, bestätigte Marko. »Und Ruthie und Mr. Hitchens saßen hinter einem Busch an der Auffahrt zum Turm mit Walkie-Talkies ausgerüstet... «
»... und mit Decken und Kaffee«, fügte Mr. Hitchens schmunzelnd hinzu.
»...Und mit dem Auftrag, jedes Fahrzeug, das vorbeikam, zu melden. Sheng Ti war unser Gärtner..., der ein ganzes Waffenarsenal in seinem Sack hinter sich herzog.«
Sheng Ti nickte eifrig und fügte strahlend hinzu: »Und einen Walkie-Talkie. Sehr gut!«
»Ich muß jedoch zugeben«, ergriff Robin das Wort, »daß wir alle, wie wir hier sitzen, unseren Augen nicht trauten, als die Terroristen tatsächlich am Turm ankamen. Wir waren gerade noch rechtzeitig gekommen!«
»Ich habe sie zuerst gesehen«, verkündete Sheng Ti stolz. Ruthie nickte. »Ja. Hitch und ich hatten lediglich einen Wagen auf der Straße zum Turm gemeldet, doch Sheng Ti fiel auf, daß zwei schwerbewaffnete Männer aus dem Wagen stiegen und nach oben zum Cafe fuhren.«
»Wo acht Besucher sowie Krugg und Upshot beim Frühstück saßen«, bemerkte Mr. Hitchens. »Die beiden Terroristen bedrohten sie mit Maschinenpistolen und zwangen sie, auf das Dach des Turms zu gehen.«
»Und dort nahmen wir sie in Empfang«, berichtete Cyrus.
»Robin, Marko, meine Wenigkeit, der dritte Mann von Interpol - wie war doch gleich sein Name? - und Duncans sieben Leute.«
»Es geschah alles so schnell!« murmelte Mr. Hitchens.
»Kurz danach«, fuhr Marko fort, »kam von Mr. Hitchens und Ruthie bereits die Meldung, daß ein VW-Bus die Straße zum Gipfel herauffahre, hinter dessen Fenster eindeutig Mrs. Follifax zu erkennen sei.«
Voller Verwunderung und mit dem hartnäckigen Gefühl, dies alles sei nicht wirklich geschehen, registrierte Mrs. Polli-fax, daß dies der Zeitpunkt war, an dem sie in die Handlung der Geschichte eintrat. Unwillkürlich verglich sie die niederdrückende Einsamkeit und Verzweiflung, die sie auf der Fahrt im VW-Bus empfunden hatte, mit der überschwenglich und freudig erregten Beschreibung der Geschehnisse seitens ihrer Freunde; doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich des deprimierenden Gefühls nicht erwehren, isoliert und im Grunde genommen alleine zwischen all diesen lieben Menschen zu sitzen. Sie war einfach nicht fähig, die qualvollen Stunden und die schrecklichen Erlebnisse der Nacht und des Morgens so ohne weiteres abzuschütteln. Der Gedanke an Detwiler bedrückte sie, und als sie den Blick hob, sah sie direkt in Alec Wis Augen und sie erkannte in ihnen denselben Schmerz, dieselbe Trauer, die sie empfand. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und im selben Augenblick fühlte sie den leichten, beruhigenden Druck von Cyrus' Hand auf ihrem Arm und sie begriff, daß Cyrus sie verstand.
Mit einemmal fiel die beklemmende Düsterkeit von ihr ab, und wie ein freudiger Schock durchströmte sie die Erkenntnis, daß sie wieder empfinden konnte - sich selbst, das Leben, Cyrus, Alec und all die wunderbaren Menschen um sie. Es war, als wäre sie mit einem einzigen Schritt aus dem dumpfen Schatten eines Grabs in das helle, sanfte Sonnenlicht getreten.
»Cyrus fuhr ins Erdgeschoß hinab«, berichtete Robin weiter, »um auf dich zu warten und um dich durch seine Anwesenheit zu warnen... «
»Er machte sich natürlich Sorgen, Ihnen könnte bei der zu erwartenden Schießerei etwas geschehen«, warf Marko dazwischen.
Die Erinnerung an die Sekunden vor dem Aufzug zauberte ein zaghaftes Lächeln in Mrs. Pollifax' Züge, und erleichtert, endlich den Zugang zur Wirklichkeit wiedergefunden zu haben, gestand sie: »Ich dachte... Ich habe wirklich die ganze Zeit über geglaubt, ich hätte Halluzinationen ... Sheng Ti als Gärtner und Cyrus vor dem Aufzug des Gipfelturms - das konnte unmöglich die Wirklichkeit sein... Ich war überzeugt, verrückt geworden zu sein.«
»Sie befanden sich in einem tiefen Schockzustand«, erinnerte sie Ruthie. »Hervorgerufen durch die Folter, wie Dr. Chiang sagte, und dadurch, daß Sie mit ansehen mußten, wie Detwiler erschossen wurde.«
>Hervorgerufen durch die Folter und dadurch, daß ich mit ansehen mußte, wie Detwiler erschossen wurde...<, wiederholte Mrs. Pollifax in Gedanken. >Vielleicht werde ich eines Tages - eines schönen Sommertages, zwischen den Blumen in meinem Garten - in der Lage sein, alles aus einer größeren Distanz heraus zu überdenken und endlich diese Welt begreifen, die einerseits Mikrochips, computergesteuerte Roboter und Satelliten produziert, die sogar Menschen zum Mond schickt, andererseits jedoch nicht fähig ist, in Frieden und Eintracht zu leben, und deren Bewohner ohne das geringste Mitgefühl einander foltern, quälen und töten. Eines Tages vielleicht; doch nicht jetzt - noch nicht.. .<
Es fiel ihr leichter, an Detwiler zu denken; an den Menschen Detwiler, der mißbraucht und manipuliert worden war, hin und her gerissen zwischen Schwäche und Entschlossenheit, zwischen Selbstaufgabe und Opfermut - bis er dann doch noch die Kraft fand, zu handeln. Detwiler, der lieber gestorben war, als sich weiterhin zu unterwerfen und erniedrigen zu lassen...