Ihre Blicke trafen sich, und für den Bruchteil einer Sekunde verschlug es ihm die Sprache. Sie ließ ihren Blick wie zufällig über sein Gesicht wandern und sah dann mit der Gleichgültigkeit eines Fremden an ihm vorbei. Er hatte sich wieder gefaßt und wandte sich erneut seinem Begleiter zu. Er hatte sie erkannt. »Sehr gut«, dachte sie zufrieden, ließ den Schinken, die Eier und die Wärmeplatten mit den Omelettes links liegen, betrachtete interessiert eine prachtvolle, leuchtendrote tropische Blume, die als exotischer Farbtupfer das Büffet zierte und verließ den Goldenen-Lotus-Saal.
Ihre Gedanken weilten bereits bei Sheng Ti. Sie durchquerte zielstrebig die Hotelhalle und sah sich, auf der Straße angelangt, nach einem Taxi um.
Während Mrs. Pollifax im Taxi durch die Straßen von Hongkong fuhr, kehrten ihre Gedanken zu Sheng Ti zurück, mit dem sie das Schicksal nun schon mehrere Male zusammengeführt hatte: Einmal im Bazar von Turfan, zum zweiten Mal in jener Nacht, als sie feststellte, daß auch der KGB in den Fall verwickelt war, und dann noch einmal in Urumtschi, als er am Straßenrand kauerte und mit der stoischen Geduld des Asiaten auf sie wartete. Sie würde nie vergessen, wie seine Augen aufleuchteten, als er sie endlich sah. Unbestreitbar hatte das kommunistische Regime wahre Wunder im Interesse der Mehrheit der nahezu einer Milliarde Einwohner Chinas bewirkt, doch Mrs. Pollifax hatte das Schicksal Sheng Tis immer als ein Beispiel für den Preis betrachtet, der für diese Wunder bezahlt werden mußte, denn Sheng Ti war... - sie versuchte sich den Eindruck, den der Junge auf sie gemacht hatte, wieder zu vergegenwärtigen -... Sheng Ti war anders gewesen, war von der Norm abgewichen: nicht nur weil seine Eltern reiche Bauern gewesen waren, sondern vor allem wegen der Folgen, die dieser Umstand für das Leben von Sheng Ti gehabt hatte: Im China Maos war ihm nie die Möglichkeit geboten worden, seine überdurchschnittliche Intelligenz nutzbringend und sinnvoll einzusetzen; vielmehr hatte man ihn im Alter von sechzehn Jahren in eine der ländlichen und fast mittelalterlich-primitiven Kommunen in Zentralchina verschickt, von der er nach drei Jahren geflohen war. Dafür war er in ein Arbeitslager, das noch weiter im Westen des riesigen Reiches lag, verbannt worden. Sechs Jahre lang arbeitete er in einer Straßenbaukolonne in der Nähe von Urumtschi, doch auch dort fiel es ihm schwer, sich einzuordnen, und seine Strafakte war über die Jahre hinweg immer dicker geworden, bis er schließlich zu einem >hai fen<, einem Außenseiter - ohne jegliche Hoffnung und Aussicht auf eine bessere Zukunft - gestempelt war, als den sie ihn kennengelernt hatte. Diese ungeheure Vergeudung menschlicher Kreativität, und die verzweifelte Auflehnung, mit der sich sein gesamtes Wesen gegen die Vernichtung seiner Talente und die Mißachtung seiner Intelligenz zur Wehr setzte, hatte sie tief betroffen gemacht.
In Amerika wäre Sheng Ti sicherlich Anwalt oder Lehrer geworden - davon war Mrs. Pollifax überzeugt -, .denn er besaß eine stark ausgeprägte Neugierde, und Mrs. Pollifax betrachtete Neugierde als einen untrüglichen Ausdruck von Intelligenz. Für Leute, die nie Fragen stellten, die niemals nach dem Warum oder Wie fragten, empfand sie Bedauern. In Maos China stellteman keine Fragen - man paßte sich entweder an, oder man wurde zum Außenseiter, zum Staatsfeind, deklariert.
Sie selbst hatte damals darauf gedrängt, Sheng Ti gemeinsam mit Wang Shen aus China herauszuschmuggeln, und sie fragte sich nun, ob sie ihm damit einen guten Dienst erwiesen hatte -falls er, wie Bishop angedeutet hatte, in Hongkong tatsächlich nicht glücklich war.
Das Taxi hielt vor der Einmündung eines engen Seiten-gäßchens, und der Fahrer erklärte ihr, sie würde, wenn sie dem Gäßchen folgte, nach ein paar hundert Metern rechter Hand auf den Beginn der Dragon Alley stoßen. Mrs. Pollifax zahlte das Taxi, und als sie vom Trottoir zurücktrat und dem davonfahrenden Wagen nachblickte, fühlte sie eine Welle der Erregung, die ihr Herz bis zum Hals schlagen ließ. Das lärmende und hektische Leben um sie, das farbenfrohe Menschengewimmel in den schmalen gewundenen Gäßchen ließen keinen Zweifel zu: Sie war nach China zurückgekehrt; sie hatte es wiedergefunden, das Land, das sie so sehr liebte - hier, an einer Straßenecke der Altstadt von Hongkong, weit entfernt in Zeit und Lebensstil von dem prachtvollen und imposanten Handelszentrum der Stadt, wo sie eben noch gefrühstückt hatte.
»Das ist das China, das ich gesucht habe«, dachte Mrs. Pollifax, und fast schwelgerisch sog sie die aromatischen Düfte, die aus den kleinen Läden auf die Straße strömten, in die Lungen. Das schmale Gäßchen, das sie hinaufblickte, war gesäumt von eng aneinander geduckten Häusern, von deren Fassaden ein Wald von Schildern und Reklametafeln in schreienden Farben bis weit in die Straße hinein reichte. Die Bambusstangen, die von den Balkons der Häuser fast bis zur Mitte des Gäßchens ragten, taten ein übriges, das bunte Bild zu vervollkommnen: An ihnen flatterten knallbunte Wäschestücke, vorwiegend in grellem Rot, die in der leichten Brise, die vom Meer heraufwehte, zum Trocknen ausgehängt waren. Obwohl es noch früh am Tage war, pulsierte die enge Straße bereits von Leben und Geschäftigkeit. Auf den Gehsteigen reihten sich Verkaufsstände, die Plastikblumen, frische Schnittblumen, Sandalen, Gewürze und Kräuter, getrockneten Fisch und frisches Obst feilboten. Der Duft von Räucherstäbchen, Ingwer und gebratenen Nudeln hing in der Luft. Das Stimmgewirr der Passanten, die schrillen Rufe der Verkäufer und das Plärren von Transistorradios vermischten sich zu einem exotisch-bunten Klangteppich, der sich vor Mrs. Pollifax ausbreitete.
»Wie wunderschön«, seufzte sie und setzte sich in Bewegung, um das enge Gäßchen hinaufzuschlendern. Hin und wieder blieb sie an einer der Straßenbuden stehen, um einen Blick auf die Gläser mit eingelegtem Schlangenfleisch, aufgehäuften Gingsengwurzeln oder Reiseandenken von Hongkong zu werfen. Genau wie der Taxifahrer es ihr beschrieben hatte, stieß sie nach wenigen Minuten auf die Einmündung der Dragon Alley, die - kaum breiter als eine ausgetretene Steintreppe - zu einer oberhalb gelegenen Parallelstraße führte. Ohne zu zögern, begann Mrs. Pollifax die flachen und schiefgetretenen Steinstufen emporzusteigen.
Das Haus mit der Nummer 31 lag auf der rechten Straßenseite. Es beherbergte einen schäbigen kleinen Laden, dessen Schaufenster blind vor Staub war. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift >Feng-Imports< - in englischen und in chinesischen Lettern. Die Ladentür war noch verschlossen, wie Mrs. Pollifax mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln feststellte. Wie eine neugierige Touristin ließ sie ihre Blicke über die malerischen Fassaden wandern, und scheinbar ganz zufällig blieb sie an dem Schaufenster von Feng-Imports hängen. Offensichtlich unentschlossen - und wie sie hoffte gänzlich unauffällig - blieb sie stehen, um die ausgestellten Elfenbein- und Jadeschnitzereien zu betrachten.
Die Stücke waren von erlesener Qualität und schienen irgendwie gar nicht in das verstaubte Fenster zu passen. Mrs. Pollifax versuchte in das Innere des Ladens zu spähen; soweit sie jedoch feststellen konnte, war er leer. Sie trat einen Schritt zurück und entdeckte an der Innenseite der Glastür eine handgeschriebene Notiz mit den Öfnungszeiten des Ladens. Er war erst ab 10 Uhr geöffnet, Jetzt war es 9 Uhr 40.
Mrs. Pollifax wandte sich ab und schlenderte weiter. Haus Nummer 33 war ebenfalls ein Laden - ein Laden für Plastikblumen. Auch er hatte noch nicht geöffnet. Haus Nummer 35 war besonders schmal und zum Teil hinter einer Steinmauer versteckt. In Nummer 37 befand sich die Werkstatt eines Schneiders, eines schmächtigen Alten, der über seine Nähmaschine gebeugt saß. Dann folgte die kahle Wand des Eckhauses der Dragon Alley, dessen Fenster und Eingang auf die oberhalb liegende Straße blickten. Auf der linken Seite der Dragon Alley lagen - von einem kleinen Elektroladen abgesehen, der billige Transistorradios feilbot -windschiefe, winzige Holzhäuschen mit Balkons und Gartentürchen, die in Hinterhöfe führten. Neben der Eingangstür eines dieser Häuser hing ein Schild mit der Aufschrift >ZIMMER<. Vor diesem Haus, dem Haus Nummer 40, stand eine kleine Bank, auf die sich Mrs. Pollifax sinken ließ, um auf Sheng Ti zu warten.