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»Er wollte so gerne auf eine Schule gehen«, seufzte Mrs. Pollifax deprimiert. »Sie schicken ihn doch auf eine Schule? Außerdem wollte er einen Beruf erlernen und...«

»Was diesen Punkt betrifft, können Sie ganz beruhigt sein«, entgegnete Detwiler jovial. »Er lernt fleißig Englisch und auch eine Menge über Jade- und Diamantenverarbeitung. Überzeugen Sie sich selbst«, lächelte er, erhob sich und deutete auf den Arbeitstisch unterhalb des Fensters. »Diese Diamanten entsprechen einem Wert von etwa einhunderttausend Dollar; ein Anblick, der Ihnen vielleicht nie mehr geboten wird.«

Mrs. Pollifax unterdrückte den Wunsch zu widersprechen, denn sie bemerkte Detwilers Ablenkungsmanöver sehr wohl, doch dann besann sie sich eines Besseren, denn schließlich hatte sie ihr Ziel, bis zu Detwiler vorzudringen, erreicht. »Wie heißen Sie übrigens?« erkundigte sie sich mit honigsüßem Lächeln. »Ich nehme an, meinen Namen kennen Sie bereits. Ich heiße Pollifax.«

»Detwiler«, stellte er sich etwas gedankenabwesend vor. »Sehen Sie nur diesen Stein! Fünf Karat, und wie herrlich geschnitten und geschliffen er ist!«

»Verkaufen Sie die Steine in Ihrem Laden?«

»Nein, nein. Wir versenden sie in alle Welt.Diese Steine hier wurden in Antwerpen geschnitten und werden hier in Hongkong geschliffen... In Hongkong werden Diamanten im Wert von Millionen und Abermillionen bearbeitet. Wo diese Steine im einzelnen hingehen, kann ich Ihnen gar nicht genau sagen. Lotus führt bei uns die Bücher und weiß Genaueres... Wir haben Kunden in Ägypten, Saudi-Arabien, Japan...« Er zuckte mit den Schultern und lächelte gewinnend. »Aber erlauben Sie mir, daß ich Ihnen ein kleines Andenken an Hongkong mitgebe. Keinen Diamanten natürlich, aber doch etwas Besonderes. Damit Sie nicht so ganz enttäuscht nach Hause zurückkehren.«

»Oh!«

»Keine Widerrede! Ich bestehe darauf.« Er ging zu den Regalen mit Jade- und Elfenbeinschnitzereien und griff nach einer Jadefigur. Er schüttelte den Kopf, stellte das Figürchen wieder zurück und wählte ein anderes. Er reichte es Mrs. Pollifax. »Das ist Elfenbein«, erklärte er. »Ist es nicht wunderschön?«

»Ein Buddha!« rief Mrs. Pollifax. »Wie hübsch!« Die Figur war etwa 30 Zentimeter groß und - soweit Mrs. Pollifax sehen konnte - ein Meisterwerk der Schnitzereikunst. Der Buddha saß im traditionellen Lotussitz, und vor allem seine Hände waren überaus kunstvoll herausgearbeitet. Auf dem Kopf trug er einen ungewöhnlichen Kopfschmuck, dessen hauchzarte Schnitzereien sich zu einer kunstvollen Haube türmten. Die Falten des Gewandes fielen in schlichten Linien, während das Gesicht eine heitere, friedliche Ruhe ausstrahlte.

»Er gehört Ihnen«, erklärte Detwiler. »Er bedeutet mir beinahe ebensoviel wie Sheng Ti. Betrachten Sie ihn als lein Zeichen der Dankbarkeit für Ihre Besorgnis um .Sheng Ti.«

»Wie reizend! Sie sind geradezu entwaffnend, Mr. Detwiler«, rief Mrs. Pollifax, ohne allerdings auch nur im geringsten entwaffnet zu sein, denn sie überlegte bereits, was sie als nächstes unternehmen würde, um Sheng Ti zu finden.

»Lotus!« rief Mr. Detwiler. »Würden Sie das bitte Mr. Feng bringen. Er soll es für die Dame einpacken.«

Wortlos nahm das Mädchen die Statue entgegen, warf Mrs. Pollifax erneut einen neugierigen Blick zu und verschwand mit dem Buddha.

»Nun ja«, seufzte Mrs. Follifax, »ich sollte Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Mr. Detwiler. Außerdem gibt es in Hongkong noch so viele Sehenswürdigkeiten, die ich mir keinesfalls entgehen lassen möchte.« Sie seufzte erneut und schüttelte betrübt den Kopf. »Die Damen unseres Gartenbauvereins werden furchtbar enttäuscht sein... , auch wenn er einen Beruf erlernt und sich bei Ihnen wohl fühlt... Sind Sie auch ganz sicher, daß er hier glücklich ist?«

»Aber ganz bestimmt, Mrs. Pollifax; dessen dürfen Sie sicher sein«, erwiderte Detwiler verbindlich.

»Da fällt mir etwas Wichtiges ein, Mr. Detwiler«, sagte Mrs. Pollifax zögernd, denn sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie sei zu leicht abzuweisen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn die Damen unseres Clubs an Sheng Ti schrieben? Er könnte ja... « - sie überwand ihre Abneigung gegen diesen Ausdruck- »... eine Brieffreundschaft aufbauen.«

»Dagegen läßt sich absolut nichts sagen«, lächelte Detwiler erleichtert. »Eine gute Idee. Auf diese Weise kann er sein Englisch verbessern, und ich bin sicher, daß er sich sehr darüber freuen wird.«

Mrs. Pollifax bemühte sich, einen Ausdruck von Befriedigung in ihre Miene zu zaubern, schüttelte Detwiler überschwenglich die Hand, murmelte, sie sei entzückt, ihn kennengelernt zu haben, entschuldigte sich für die Störung, vergaß auch nicht, sich für das Geschenk zu bedanken und segelte aus dem Zimmer. Sie durchquerte das winzige Büro und schlüpfte durch den Perlvorhang in den dunklen Laden. Beinahe wäre sie mit einem jungen Mann, einem Chinesen in dunklem Anzug und einem Diplomaten-köfferchen in der Hand, zusammengestoßen. Als er hinter Mrs. Pollifax Detwiler erkannte, hellte sich sein Gesicht auf. Er verbeugte sich und eilte dann an Mrs. Pollifax vorbei in das innerste Heiligtum, das Mrs. Pollifax soeben verlassen hatte.

Mr. Feng reichte ihr ein Päckchen, das in weißes Papier gehüllt war. »Ihr Geschenk«, sagte er mit bewegungsloser Miene, und Mrs. Pollifax versuchte vergeblich, hinter seiner Maske eine emotionale Bewegung - Unmut, Ärger oder Mißtrauen - zu erkennen.

»Oh, vielen Dank«, sagte sie und verließ den Laden. Sie war erleichtert, endlich ihre eigene zur Schau getragene Maske fallenlassen zu können, hinter der sie ihren Ärger und ihre Frustration verborgen hatte.

Obwohl sie notgedrungen das Feld vorläufig geräumt hatte, fühlte sie sich keineswegs geschlagen. Ihre ursprüngliche Strategie war zwar gescheitert, doch sie würde eine andere Möglichkeit finden, mit Sheng Ti in Kontakt zu treten. Selbst die Tatsache, daß sie absolut keine Vorstellung hatte, wie sie das bewerkstelligen könnte, konnte sie nicht entmutigen; allenfalls würde sie Sheng Ti vorerst einmal vergessen und einen Bummel durch Hongkong machen.

Während sie in Richtung der Queen's Road Central spazierte, mußte sie feststellen, daß es gar nicht so leicht war, Mr. Feng und Mr. Detwiler zu vergessen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Feng-Imports zurück. Zum Beispiel war es äußerst merkwürdig gewesen, daß sich Mr. Detwiler eingemischt hatte, nachdem Feng bestritten hatte, Sheng Ti zu kennen. Die Frage, weshalb Detwiler dies getan hatte, weshalb er sie in das Hinterzimmer gebeten und zugegeben hatte, daß er Sheng Ti kannte und Feng damit als einen Lügner entlarvt hatte, erschien ihr sehr interessant und wert, genauer darüber nachzudenken. Welchen Grund mochte Detwiler dafür gehabt haben? Schließlich hatte sich dadurch an der Tatsache, daß man jeden Kontakt mit Sheng Ti verhindern wollte, nichts geändert. Eines war klar: dies alles deutete auf interne Differenzen und Spannungen bei Feng-Imports hin. Da diese Differenzen, welcher Art sie auch sein mochten, nicht ihr Problem waren, kam Mrs. Pollifax zu dem Schluß, daß auch diese Frage vorläufig beiseite geschoben werden konnte.

Dies erschien ihr die beste Lösung - bis sie feststellte, daß ihr jemand folgte...

Zunächst waren die Straßen viel zu belebt gewesen, als daß ihr in der Menschenmenge ein bestimmtes Gesicht aufgefallen wäre, doch dann - nachdem sie in etwas ruhigere Straßen abgebogen und hin und wieder vor einem Schaufenster stehengeblieben war, um chinesische Handwerkskunst und Antiquitäten zu bewundem - fiel ihr auf, daß jedes Mal, wenn sie stehenblieb, auch ein Mann etwa zwanzig Schritte hinter ihr stehenblieb und scheinbar interessiert die Schaufenster betrachtete. Aus purem Zufall war ihr eine abrupte Bewegung hinter ihr aufgefallen, als sie fast an einem Schaufenster vorbeigegangen wäre, dann aber doch stehenblieb und ein paar Schritte zurückging. Als sie dann zum vierten Mal ziemlich abrupt vor einer Auslage haltmachte, um einen verstohlenen Blick auf ihren Verfolger zu werfen, erkannte sie ihn: Es war der junge Chinese mit dem Diplomatenköfferchen, der im Laden auf Detwiler gewartet hatte.