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In diesem schwach gefärbten runden Bogen, über der dunklen Luft des Schattengipfels, befand sich ein von Licht umgebenes Schattenkreuz. Es war ein Brockengespenst-Phänomen, verursacht durch niedrigstehendes Sonnenlicht, das die Schatten von Gipfeln und Bergsteigern auf feuchte Luft wirft und ein helles Halo um sie herum entstehen läßt. Ich hatte schon mal eins gesehen.

Dann breitete Kunga Norbu ruckartig die Hände aus, und die ganze Vision verschwand augenblicklich.

»Mann«, sagte ich.

»Allerdings«, murmelte Freds und führte mich die letzten qualvollen Schritte auf den Gipfel selbst hinauf, so daß wir neben Kunga Norbu standen. Er hatte den Kopf zurückgelegt, und auf seinem Gesicht stand ein Lächeln aus reiner, kindlicher Freude.

Ich weiß nicht mehr, was wirklich dort oben geschah. Vielleicht wurde ich ohnmächtig und sah eine Sekunde lang Farben, dachte, es sei ein Eisbogen gewesen, und dann blinzelte ich und sah wieder klar. Aber ich weiß, daß ich in diesem Augenblick, als ich Kunga Norbus entrücktes Gesicht betrachtete, sicher war, daß er seine Freiheit gewonnen und sich dies oben im Himmel abgezeichnet hatte. Die Aufgabe war vollbracht, er hatte die Arme vor Freude ausgebreitet … Ich glaubte es auf einmal. Ich schluckte und hatte einen Kloß im Hals.

Nun fühlte ich es auch; ich fühlte, wo wir waren. Wir hatten Chomolungma erstiegen. Wir standen auf dem Dach der Welt.

Freds atmete ein paar Mal ein und aus. »Tja«, sagte er und schüttelte Kunga und mir die Hand. »Wir haben es geschafft!« Und dann schlugen wir uns gegenseitig auf den Rücken, bis wir bald vom Berg gefallen wären.

15

Wir waren noch nicht lange oben, als ich schon wieder das Problem des Abstiegs in Betracht zog. Es war nicht mehr viel vom Tag übrig, und wir waren von jedem trauten Heim weit entfernt. »Was nun?«

»Ich glaube, wir steigen besser zum Südgipfel hinab und graben uns für die Nacht eine Schneehöhle. Weiter schaffen wir es nicht, und das haben Haston und Scott 1975 auch getan. Es hat bei ihnen geklappt, und auch bei ein paar anderen Gruppen.«

»Na schön«, sagte ich. »Dann mal los.«

Freds sagte etwas zu Kunga, und wir machten uns an den Abstieg. Augenblicklich stellte ich fest, daß die südöstliche Seite nicht so breit oder flach wie die westliche war. In der Tat stiegen wir eine Art schneebedeckten, messerscharfen Grat hinab, aus dem häßliche graue Felsen hinausstachen. Das also war die Yakroute! Wir brauchten eine verdammt harte Stunde, um auf den Südgipfel hinabzusteigen, und wir schafften es nur, weil wir ununterbrochen bergab kletterten.

Der Südgipfel ist ein großer Vorsprung im südöstlichen Grat, der aus einer Art Höcker — dem Nebengipfel — und einem flachen Stück besteht. Hier fanden wir einen breiten Hang aus sehr tiefem, festem Schnee — perfekte Bedingungen für eine Schneehöhle.

Freds holte seine kleine Aluminiumschaufel aus dem Rucksack und machte sich wie ein Hund, der einen Knochen sucht, ans Graben. Ich begnügte mich damit, mich zu setzen und ihm zuzusehen. Kunga Norbu stand da und betrachtete die schier unendliche Ausdehnung der Gipfel; er wirkte etwas benommen. Ein- oder zweimal brachte ich die Kraft auf, Freds abzulösen. Nachdem wir einen körpergroßen Einstieg gegraben hatten, gaben wir uns mit einer Höhle zufrieden, die gerade groß genug war, um uns drei aufzunehmen. Sie erinnerte mich etwas an einen Sarg für Drillinge.

Die Sonne ging unter, Sterne kamen hervor, das Zwielicht wurde mitternachtsblau; dann war Nacht. Und es wurde sehr, sehr kalt. Freds erklärte, die Höhle sei fertig, und ich kroch zu ihm und Kunga hinein und fühlte dabei, wie Schneekörner unter mir knirschten. Wir schlugen mit den Köpfen zusammen und ordneten unsere Schlafsäcke so an, daß wir in einem kleinen Kreis saßen, auf einem groben Sims über unserem Eingangstunnel, in einer fast kreisrunden Kammer. Wenn ich vornübergebeugt saß, blieben mir über dem Kopf noch drei Zentimeter Platz. »Na schön«, sagte Freds müde. »Machen wir eine Party.« Er nahm den Gaskocher aus seinem Rucksack, hielt ihn eine Weile in den Fäustlingen, um das Gas darin zu erwärmen, stellte ihn dann in der Mitte zwischen uns auf den Schnee und zündete ihn mit seinem Feuerzeug an. Der blaue Schimmer war blendendhell, das Zischen ohrenbetäubend. Wir zogen unsere Fäustlinge aus und legten unsere Hände darüber, so daß kaum noch Platz zwischen der Flamme und unserer Haut blieb. Allmählich erwärmte sich unsere Höhle etwas.

Ihnen kommt es vielleicht seltsam vor, daß sich eine Schneehöhle überhaupt erwärmen kann, doch vergessen Sie nicht, daß wir hier von relativen Temperaturen sprechen. Draußen war es etwa fünfundzwanzig Grad unter Null. Dazu der Wind und die Höhe, in der es so wenig Sauerstoff gibt, und man stirbt. In der Höhle jedoch gab es keinen Wind. Der Schnee selbst ist gar nicht so kalt, und er ist ein hervorragender Isolator: er erwärmt sich, wird an der Oberfläche sogar feucht, und auch das Wasser hält die Wärme hervorragend. Dazu noch einen auf Hochtouren laufenden Gaskocher und drei Körper, die ihre sechsunddreißig Grad Körpertemperatur abgeben, und selbst mit dem Loch nach draußen steigt die Temperatur leicht auf über null Grad. Das ist noch kälter als in einem Eisschrank, aber im Vergleich zu den fünfundzwanzig Grad minus draußen ist es das reinste Strandwetter.

Also waren wir zuerst richtig zufrieden in unserer kleinen Höhle. Freds scharrte etwas Schnee von den Wänden in seinen Topf und kochte heiße Zitrone. Er bot mir Mandeln an, doch ich hatte nicht den geringsten Appetit; und wenn ich Mandeln aß, hatte ich sowieso immer den Eindruck, einen Kaffeetisch zu verspeisen. Wir waren jedoch fürchterlich ausgetrocknet und tranken die heiße Zitrone, als sie kochte, was in dieser Höhe schon etwa bei Badetemperatur der Fall war. Sie schmeckte himmlisch.

Doch damit war für Freds die Party keineswegs erledigt. Sein Feuerzeug scharrte, und in dessen Licht sah ich, wie er ein Loch in die Wand grub und eine Kerze darin aufstellte. Er zündete sie an, und ihr Licht wurde von den glatten weißen Wänden unseres Heims reflektiert. Er unterhielt sich kurz mit Kunga Norbu.

»Na schön«, sagte er, als er fertig war; sein Atem breitete sich weiß in die Luft aus. »Kunga wird jetzt etwas Tumo machen.«

»Tumo?«

»Das ist die Kunst, sich ohne Feuer im Schnee selbst zu erwärmen.«

Das erregte mein Interesse. »Noch eine Lama-Fähigkeit?«

»Darauf kannst du dich verlassen. Sie kommt nackten Einsiedlern im Winter ganz gelegen.«

»Das sehe ich ein. Sag ihm, er soll es uns vorführen.«

Mit einigem Knirschen nahm Kunga die Lotusposition ein, mit den großen Schneestiefeln an seinen Füßen eine beeindruckende Leistung.

Er zog seine Fäustlinge aus, und wir folgten seinem Beispiel. Dann sah er ins Nichts und begann in einem regelmäßigen, tiefen Rhythmus zu atmen. Das ging fast eine halbe Stunde so weiter, und ich befürchtete schon, wir würden alle erfrieren, bevor ihm warm wurde, als er seine Hände zu Freds und mir ausstreckte. Wir nahmen sie in die unseren.

Sie waren so warm, als hätte er schreckliches Fieber. Ängstlich berührte ich sein Gesicht — es war warm, aber nichts im Vergleich zu den Händen. »Mein Gott«, sagte ich.

»Wir können ihm jetzt helfen«, sagte Freds leise. »Du mußt dich konzentrieren, die Energie nutzbar machen, die immer in dir ist. Mit jedem Atemzug stößt du Stolz, Ärger, Haß, Neid, Trädheit und Dummheit von dir. Mit jedem Atemzug nimmst du Buddhas Geist, die fünf Weisheiten und alles Gute in dich auf. Wenn du ganz klar und ruhig bist, stellst du dir einen goldenen Lotus in deiner Magengrube vor … Alles klar? In diesem Lotus stellst du dir die Silbe mm vor, die Feuer bedeutet. Dann mußt du sehen, wie eine kleine Flamme — etwa von der Größe eines Ziegenköttels — im ram entsteht. Jeder Atemzug danach ist wie ein Blasebalg, der diese Flamme auffächert, die durch die Tsas im Körper gleitet, die mystischen Nerven. Stell dir den Prozeß in fünf Stadien vor … Zuerst siehst du das Uma tsa als Feuer, das mehr oder weniger dein Rückgrat hinaufkriecht … Zweitens, der Nerv hat den Durchmesser deines kleinen Fingers … Drittens, er ist so groß wie ein Arm … Viertens, dein Körper ist das Tsa selbst und wird als Feuerröhre wahrgenommen … Fünftens, das Tsa verschlingt die Welt, und du bist nur eine Flamme in einem Feuermeer.«