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Plötzlich sagte Kunga Norbu etwas zu Freds und deutete auf mich. »Wirklich?« sagte Freds, und sie wechselten noch ein paar Worte. Schließlich wandte Freds sich an mich. »Tja, das ist eine ziemlich große Ehre, George. Kunga möchte, daß ich dir sage, wer er wirklich ist.«

»Sehr nett von ihm«, sagte ich. Ich stellte fest, daß ich den ganzen Kopf bewegen mußte, um zu sprechen, da ich mit dem Kinn auf dem Tisch lag.

Freds senkte die Stimme, was mir unnötig vorkam, da wir die beiden einzigen Menschen im Raum waren, die Englisch sprachen. »Weißt du, was ein Tulku ist, George?«

»Ich glaub’ schon«, sagte ich. »Einige der buddhistischen Lamas hier oben sollen Reinkarnationen früherer Lamas sein, und sie werden Tulkus genannt, nicht wahr? Der Abt von Tengboche soll einer sein.«

Freds nickte. »Das stimmt.« Er schlug Kunga Norbu auf die Schulter. »Na ja, unser Kunga hier ist auch ein Tulku.«

»Ich verstehe.« Ich überlegte, wie man sich in solch einer Situation zu verhalten hatte, doch mir fiel wirklich nichts ein, und so hob ich schließlich mühsam das Kinn vom Tisch und streckte die Hand aus. Kunga Norbu ergriff und schüttelte sie mit einem bescheidenen Lächeln.

»Ich meine es ernst«, sagte Freds.

»He!« sagte ich. »Habe ich behauptet, du würdest es nicht ernst meinen?«

»Nein. Aber du glaubst es nicht, oder?«

»Ich glaube, daß du es glaubst, Freds.«

»Er ist wirklich ein Tulku! Ich meine, ich habe Beweise gesehen, wirklich! Sein Ku kongma, also seine erste Inkarnation, war Tsong Khapa, ein sehr wichtiger tibetanischer Lama, 1555 geboren. Man hat das Kloster Kum-Bum an seiner Geburtsstätte errichtet.«

Ich nickte, da ich keine Worte fand. Schließlich füllte ich unsere kleinen Gläser auf, und wir sprachen einen Toast auf Kunga Norbus Alter. Er schüttete das Chang wirklich in sich hinein, als hätte er mehrere Leben Übung darin. »So«, sagte ich und rechnete nach. »Dann ist er etwa 431.«

»Genau. Und ich kann dir sagen, er hat ein schweres Leben gehabt. Die Chinesen rissen Kum-Bum nieder, kaum, daß sie das Land übernommen hatten, und bis das Kloster dort wieder aufgebaut ist, muß Tsong Khapa ein Jünger bleiben. Verstehst du, obwohl er ein großer Tulku ist …«

»Ein großer Tulku«, wiederholte ich; mir gefiel der Klang der Worte.

»Ja, obwohl er ein großer Tulku ist, ist er immer der Jünger eines noch größeren namens Dorjee gewesen. Dorjee Lama ist so ziemlich der wichtigste überhaupt — nur der Dalai Lama steht noch über ihm —, und Dorjee ist ein strenger, strenger Guru.«

Mir fiel auf, daß Kunga Norbu bei der Erwähnung von Dorjees Namen die Stirn gerunzelt und sein Glas aufgefüllt hatte.

»Dorjee ist so hart, daß der einzige Jünger, der es je bei ihm ausgehalten hat, unser Kunga hier ist. Dorjee — wenn man sein Student werden will und ihn fragt, schlägt er einen mit einem Stock. Er macht das ein paar Jahre lang, um sich zu vergewissern, daß man ihn wirklich als Lehrer haben will. Und dann nimmt er einen echt durch die Mangel. Anscheinend benutzt er die Methoden der Ts’an-Sekte aus China, die ziemlich grob sind. Um einem den Kurzen Weg zu zeigen, schlägt er einen mit seinem Schuh auf den Kopf.«

»Jetzt, da du es erwähnst … er sieht wirklich ein wenig aus wie ein Bursche, dem man mit einem Schuh auf den Kopf geschlagen hat.«

»Was kann er dafür? Er ist seit über vierhundert Jahren Dorjees Schüler, und es ist immer dasselbe. Also hat er Dorjee gefragt, wann er ein Guru aus eigenem Recht sein würde, und Dorjee sagte, erst, wenn das Kloster auf Kungas Geburtsstätte wieder aufgebaut sei. Und er sagte, daß das niemals geschehen würde, wenn es Kunga nicht gelänge, eine … na ja, eine gewisse Aufgabe zu erfüllen. Ich kann dir noch nicht genau sagen, was das für eine Aufgabe ist, aber glaub’ mir, sie ist schwer. Und Kunga war früher mein Guru, verstehst du, und so kam er zu mir und hat mich um Hilfe gebeten. Und deswegen bin ich also hier.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest mit deinen englischen Freunden den Lingtren erklettern?«

»Das werde ich auch.«

Ich war mir nicht sicher, ob es am Chang oder dem Rauch lag, aber ich war etwas verwirrt. »Na ja, was auch immer. Das klingt nach einem echten Abenteuer.«

»Darauf kannst du wetten.«

Freds sprach auf Tibetanisch mit Kunga Norbu, anscheinend, um ihm zu erklären, was er mir gesagt hatte. Schließlich antwortete Kunga ausführlich.

»Kunga meint, du könntest ihm auch helfen«, sagte Freds zu mir.

»Ich glaube, ich passe«, sagte ich. »Weißt du, ich habe meine Trekking-Gruppe.«

»O ja, ich weiß. Außerdem wird es ziemlich hart werden. Aber Kunga mag dich — er sagt, du hättest den Geist von Naropa.«

Kunga nickte nachdrücklich, als er den Namen Naropa hörte, und sah mit diesem in die Ferne gerichteten Blick durch mich hindurch.

»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Aber ich glaube, ich passe trotzdem.«

»Wir werden ja sehen, was passiert«, sagte Freds und schaute nachdenklich drein.

2

Viele Gläser Chang später taumelten wir in die Nacht hinaus. Freds und Kunga Norbu zogen ihre Jacken an und wanderten mit einem »Gute Nacht!« und einem »Guten Morgen!« zu ihrem Zelt davon. Ich kehrte zu meiner Gruppe zurück. Es kam mir schon sehr spät vor, war aber erst halb neun.

Als ich dort stand und unser Zeltdorf betrachtete, sah ich, wie ein Licht den Trail von Lukla hinabholperte. Der Mann, der die Taschenlampe trug, kam näher — es war Laure, der Sirdar meiner Gruppe. Er hatte Kunden nach Lukla zurückgeführt und war nun auf dem Rückweg. »Laure!« rief ich leise.

»Hallo, George«, sagte er. »Warum spät jetzt?«

»Ich habe getrunken.«

»Ah.« Obwohl er die Taschenlampe auf den Boden gerichtet hatte, konnte ich leicht sein breites Grinsen ausmachen. »Gute Idee.«

»Ja, du solltest dir auch ein Chang gönnen. Du hast einen langen Tag gehabt.«

»Nicht lang.«

»Klar.« Er hatte den ganzen Tag über verärgerte Kunden nach Lukla zurückgeführt und mußte also mindestens fünfmal so weit marschiert sein wie der Rest von uns. Und jetzt kam er im Licht der Taschenlampe zurück. Dennoch war es für den Sherpa Laure Tenzing wohl kein besonders schwerer Tag gewesen. Als Führer und Yakhirte war er schon sein ganzes Leben in diesen Bergen gewandert, und seine Waden waren so dick wie meine Oberschenkel. Einmal hatten er und drei Freunde aus Jux einen Rekord aufgestellt, indem sie in vier Tagen vom Everest Base Camp nach Katmandu gewandert waren; das sind etwa dreihundert Kilometer, hauptsächlich über sehr unebenes Land. Verglichen damit war das heutige Pensum wohl eher ein Spaziergang zum nächsten Briefkasten.

Das größte Problem waren zweifellos die Kunden gewesen. Ich erkundigte mich danach, und er runzelte die Stirn. »Leute in Hotel gehen, nicht glücklich. Sehr, sehr nicht glücklich. Sie zurückfliegen Katmandu.«

»Gut, daß wir sie los sind«, sagte ich. »Warum trinkst du nicht ein Chang?«

Er lächelte und verschwand in die Dunkelheit.

Ich schaute zu den Zelten hinüber, in denen meine schlafenden Kunden lagen, und seufzte.

Bislang war es ein typischer Videotrek gewesen. Wir waren von Katmandu nach Lukla geflogen. Meine Kunden, die von Hochglanzanzeigen nach Nepal gelockt worden waren, die ihnen versprochen hatten, auf Teufel komm raus Videoaufnahmen machen zu können, hatten im Flugzeug verrückt gespielt, waren durch den Gang gelaufen, hatten sich gegenseitig mit ihren Zoom-Linsen beworfen und so weiter. Sie waren unbändig, bis sie die Landepiste von Lukla sahen, die aus der Luft aussieht wie das Spielzeugmodell einer Skischanze. Ziemlich rasch saßen sie dann auf ihren Plätzen, schnallten sich an und schauten drein, als wollten sie ihr Testament machen — alle bis auf einen molligen kleinen Burschen namens Arnold, der weiterhin wie eine Kegelkugel den Gang auf und ab rollte und sich schließlich ins Cockpit drängte, um den Piloten über die Schultern filmen zu können. »Wir landen in Lukla«, sprach er mit tiefer, betont pathetischer Stimme ins Mikro seiner Kamera, wie der Erzähler eines schlechten Reiseberichts. »Sieht unmöglich aus, aber unsere Piloten sind ganz ruhig.«