„Hören Sie, ich bin beschäftigt. Verschwinden Sie.“
„Ist das freundlich? Ich möchte nur ein bißchen plaudern. Wissen Sie, ich vermisse meine Schwester wirklich sehr, und was macht es Ihnen schon aus, wenn ich Sie frage, ob Sie einmal mit ihr gesprochen haben. Ich…“
Sie erteilte mir dadurch eine Abfuhr, indem sie die Augen ins Kopf innere rollte, so daß nur noch das Weiße zu sehen war. Es war ihre nette Art, deutlich zu machen, daß sie sich in eine andere TP-Verbindung eingeschaltet hatte.
„Rutsch mir doch den Buckel runter“, brummte ich und wandte mich ab.
Jan Mortenson hatte neben mir gestanden. „Ich wußte gar nicht, daß deine Schwester ein TP-Kommunikateur ist“, sagte sie nun. „Das muß ziemlich aufregend sein!“
„Besonders für jemanden wie sie“, gab ich zurück. Ich habe Jan davon erzählt, daß du gelähmt und deshalb gezwungen bist, dein ganzes Leben im Krankenbett zuzubringen. Jan war sehr mitfühlend. Sie wollte wissen, warum man nicht ein shilamakkaartiges Transplantat entwickeln könne, um dich in einen synthetischen Körper zu verpflanzen, damit du aufstehen und herumgehen kannst. Das ist die auf der Hand liegende Frage, die alle stellen, und ich erklärte ihr, daß wir diese Möglichkeit vor langer Zeit geprüft haben und zu dem Schluß gekommen sind, es sei zu gefährlich, um es in deinem Fall zu versuchen.
„Wie lange leidet sie schon daran?“ fragte Jan.
„Seit ihrer Geburt. Zunächst glaubte man, es auf chirurgischem Wege beheben zu können, doch dann…“
Dann wollte sie wissen, wie alt du bist, und ich sagte ihr, du seist meine Zwillingsschwester. Jan wurde so rot wie eine überreife Tomate und meinte: „Wenn sie eine TP ist und du ihr Zwillingsbruder, dann mußt auch du ein TP sein und genau in diesem Augenblick meine Gedanken lesen!“
Also mußte ich es wieder mal herunterleiern: daß wir ganz offensichtlich zweieiige und keine eineiigen Zwillinge sind, da du ein Mädchen bist und ich nicht, und daß ein zweieiiges Zwillingspaar nicht unbedingt die telepathische Begabung gemeinsam haben muß und daß du tatsächlich der einzige Telepath in der Familie bist. Ich fügte hinzu, es sei ein allgemein weit verbreiteter Irrglaube anzunehmen, ein Telepath könne die Gedanken eines Nicht-Telepathen lesen. „Sie können nur mit den Positivbewußtseinen anderer Telepathen Kontakt aufnehmen“, sagte ich. „Meine Gedanken kann Lorie nicht lesen. Und ich kann die Ihren nicht lesen, genausowenig wie die irgendeines anderen Menschen. Aber die fette Marge dort drüben könnte Lories Gedanken lesen, wenn sie wollte.“
„Wie schade für deine Schwester“, sagte Jan. „Einen Zwillingsbruder zu haben und nicht über TP mit ihm sprechen zu können. Erst recht, wenn sie an einen Ort gefesselt ist und ein solches Bedürfnis danach hat zu wissen, was außerhalb ihres Zimmers geschieht.“
„Sie ist ein tapferes Mädchen“, sagte ich, und das stimmt. „Sie wird damit fertig. Außerdem braucht sie mich nicht. Sie hat Tausende von TP-Freunden, im ganzen Universum verstreut. Acht Stunden täglich verbringt sie damit, ins kommerzielle telepathische Kommunikationsnetz eingeschaltet zu sein und Nachrichten weiterzugeben, und ich glaube, die anderen sechzehn Stunden bleibt sie ebenfalls im Äther, nur aus Spaß. Und während dieser Zeit empfängt sie Telepathen-Klatsch von überall her. Wenn sie überhaupt schläft, dann ist mir das bisher entgangen. Das Leben hat ihr übel mitgespielt, aber sie hat eine Art Ausgleich.“
Jan war wirklich sehr daran interessiert, alles über dich zu hören, und ich erzählte ihr noch viel mehr. Was ich hier nicht zu wiederholen brauche, da du ohnehin darüber Bescheid weißt. Ich glaube, ich habe Jan vielleicht ein wenig unterschätzt. In den letzten paar Tagen habe ich zu begreifen begonnen, daß es sich bei ihrer Schön-aber-dumm-Schale nur um äußeres Gebaren handelt. Tatsächlich ist sie weitaus feinfühliger und komplexer, als sie den Eindruck macht. Ich weiß nicht, woher ich diese blöde Vorstellung habe, schöne Frauen seien immer oberflächlich. Nicht, daß sie von blendender Genialität wäre, aber sie hat noch mehr Qualitäten als nur Kurven und ein Zehntausend-Volt-Lächeln.
Inzwischen war der größte Teil unserer mannigfaltigen Registrierungen und Anmeldeformalitäten erledigt. Doch wir standen noch eine weitere halbe Stunde herum und warteten darauf, daß Saul Shamoon mit unserer Ausgrabungsgenehmigung zurückkehrte. Dr. Schein konnte nicht begreifen, was ihn so lange aufhielt. Er befürchtete, Saul sei in eine Art bürokratische Straßensperre geraten, die möglicherweise unsere ganze Arbeit auf diesem Planeten unmöglich machte. Das brachte Pilazinool so aus der Fassung, daß er seinen linken Arm bis hin zum zweiten Ellbogen abschraubte.
Schließlich kehrte Saul zurück. Mit der Ausgrabungs-Genehmigung. Schien damit überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt zu haben. Doch er hatte fünfundvierzig Minuten im PX-Postamt zugebracht, um sich für seine Sammlung einen Satz Higby-V-Briefmarken zu besorgen.
Wir luden unsere Ausrüstung in einen Landkriecher und fuhren ab.
Die Nacht brach an, schnell und gründlich. Higby V besitzt nicht einen einzigen Mond. Diese Welt gehört zu der Art von Planeten, auf der die Nacht so plötzlich anbricht, als habe man einen Schalter betätigt — wenn man sich so wie wir in unmittelbarer Nähe des Äquators befindet. Klick — und es ist dunkel. Unserem Fahrer gelang es dennoch, uns nicht in irgendeinen Krater hineinzusteuern, und eine Stunde später waren wir am Ziel.
Dr. Schein, der sich bereits letztes Jahr hier aufgehalten hatte, als es zu der Entdeckung gekommen war, hatte dafür gesorgt, daß drei aufgepumpte Aufblashütten für uns bereitstanden: eine als Laboratorium und die beiden anderen als Schlaf- und Wohnunterkünfte. Außerdem befand sich hier noch ein großer gewölbter Schirm aus Kunststoff, der die am Hang liegende Fundstelle bedeckte, wo die Artefakte der Erhabenen ausgemacht worden waren.
Als die Zeit kam, uns unsere Schlafplätze zuzuweisen, entwickelte sich ein kompliziertes moralisches Problem. Ich glaube, es wird dir Spaß machen, es dir zu vergegenwärtigen.
Das Problem ging auf die Tatsache zurück, daß sich im Innern der Blashütten keine Trennwände befanden und folglich auch keine Privatsphäre existierte. Unter uns befanden sich zwei unverheiratete Erdenmenschen weiblichen Geschlechts, und entsprechend dem albernen sozialen Tabu wäre es unmoralisch und ungebührlich, Jan und Kelly bei den Männern schlafen zu lassen. (Der Umstand, daß Kelly überhaupt keinen Wert auf eine Privatsphäre legte, ist unbedeutend, da Androiden die Gleichbehandlung gegenüber menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut beanspruchen, einschließlich des Rechts, unsere Neurosen zu teilen. Kelly besitzt den uneingeschränkten Status einer vollwertigen, menschlichen Frau, und sie anders zu behandeln hieße, sich der Rassendiskriminierung schuldig zu machen, nicht wahr?)
Die Lösung, die Dr. Schein vorschlug, sah folgendermaßen aus: Alle Männer — er selbst, Leroy Chang, Saul Shahmoon und ich — sollten in einer Aufblashütte unterkommen und Jan und Kelly in der anderen. In Ordnung, das wurde den elementaren Anstandsformen gerecht, aber…
Jan und Kelly würden dadurch bei den Aliens schlafen müssen, und einige von ihnen waren männliche Vertreter ihrer Spezies. (Steen Steen und 408b konnten von dieser Kategorie ausgenommen werden: Steen, weil er/sie beide Geschlechter in sich/ihr vereinte, und 408b, weil es keins von beiden zu besitzen schien.) Ich vermute, die verkalkten Moralapostel auf der Erde gerieten ganz aus der Fassung bei der Vorstellung, Jan und Kelly zögen sich vor den Augen irgendwelcher Männer an und aus — selbst wenn es sich dabei um Aliens handelte. (Jedenfalls würden sie sich wahrscheinlich über Jan aufregen; über die Lebensumstände von Androiden scheinen sich diese bornierten Typen keine großen Gedanken zu machen.) Das war es jedoch nicht, was Dr. Schein Sorgen machte. Er wußte, daß Kelly keine moralischen Blockaden besitzt. Und daß Jan, während sie die üblichen Tabus in Hinsicht auf die vier menschlichen Männer beachtet, überhaupt nicht damit rechnet, daß Pilazinool oder Dr. Horkkk oder Mirrik vielleicht eine Bedrohung ihrer Tugend darstellten. Statt dessen machte er sich Sorgen darüber, die Aliens könnten sich beleidigt fühlen. Wenn Jan die Bekleidungstabus zwar uns, aber nicht ihnen gegenüber beachtete, konnte dies dann nicht so ausgelegt werden, als bedeutete es, sie betrachte sie als minderwertige Lebensformen? Sollte sich ein Mädchen nicht allen intelligenten Lebensformen gegenüber sittsam verhalten — oder niemandem? Wo ist in diesem Fall die Gleichheit der galaktischen Rassen, von der man so viel spricht?