Orla hatte aufgehört, sich zu drehen, und sah jetzt auf das Meer hinaus. Wilburs Rücken gegen ihre Brust gepresst und ihn mit beiden Armen umfassend und wärmend, stand sie da und summte vor sich hin, mit dem Rauschen der Brandung und nicht gegen sie. Manchmal fragte sie sich, welche Richtung ihr Leben wohl genommen hätte, wenn sie und ihre Schwester damals nicht nach Dublin gefahren wären, um den St. Patrick’s Day einmal woanders zu feiern als in Galway. Wenn sie diesen großen, gutaussehenden Burschen nicht getroffen hätte, über den die Zeitungen in Irland berichteten und der sie wie selbstverständlich am Arm genommen und durch die Menschenmenge auf den Platz geführt hatte, wo getanzt worden war. Wo sie jetzt wohl leben würde und mit wem, hätte sie sich nicht in diesen Mann verliebt, der sie an diesem von Musik und Lachen erfüllten Tag so gefangen nahm, dass sie Deirdre vergaß und sich erst Stunden später an sie erinnerte. Mit seiner Hilfe hatte sie die kleine Schwester auf einer Parkbank wiedergefunden, und sie hatten sich umarmt und geweint und später gelacht, waren singend durch die Nacht geschlendert, zwei Schönheiten aus Galway und der Mann, der in Amerika sein Glück gemacht hatte.
Als der Wind auffrischte und es zu kalt wurde, um draußen zu bleiben, ging Orla zurück ins Haus. Ihr Mann saß im Wohnzimmer vor einem Feuer und las zum zweiten Mal an diesem Tag die Zeitung, diesmal von hinten nach vorne. Obwohl er es bereits am Morgen getan hatte, las er jeden Artikel und jede noch so kleine Meldung erneut, als könnte er etwas übersehen haben oder suche nach versteckten Botschaften, Meldungen, die endlich einen Sinn ergaben. Dabei machte er sich nicht viel aus der Welt, Sport interessierte ihn nicht, und den Wirtschaftsteil verabscheute er aus tiefstem Herzen.
Das Ritual der zweiten Lektüre war während Eamons Jahren in Amerika entstanden, als er, fast schon zwanzig, das Lesen erlernte. Früher hatte Orla darin eine seltsame Angewohnheit gesehen, später nannte sie es Tick, dann Macke. Jetzt war es ihr zu gleichgültig geworden, als dass sie sich gefragt hätte, ob ihr Mann jeden Tag einem Zwang nachgab oder allmählich verrückt wurde.
Der Matrose hatte mit Gesten um Papier und Stift gebeten und geschrieben, ein paar Zeilen nur, hingekritzelt in einer ungelenken Schrift. Drei Tage lang brachte er jeweils am Nachmittag ein paar Sätze auf das grobe Papier, oft nach jedem Wort von einem Hustenanfall unterbrochen und immer nach zwei oder drei Zeilen so erschöpft, dass er, den Bleistiftstummel umklammert, wegsackte in einen Zustand, der weder Schlaf noch Ohnmacht war.
Am dritten Tag, während Eamon, der vor dem Keuchen und Wispern geflohen war, am Wasser stand und Luft in seine Lungen pumpte, hängte der Matrose eine zittrige Schleife ans Ende seines Namens und starb. Eamons Eltern, unentschlossen, was mit dem Toten zu tun war, schickten ihren Sohn noch einmal los, damit der Doktor sich des Falles annahm.
Zwei Tage später, der Leichnam lag mittlerweile in seine graue Wolldecke gewickelt und mit Brettern vor dem Regen geschützt neben dem Stall in der Kälte, kam ein schlechtgelaunter Beamter auf den Hof, stellte Papiere aus, die der Doktor unterschrieb und auf die Aidan McDermott einen schwarzen Daumenabdruck presste, und erteilte die Erlaubnis, den Fremden zu bestatten.
Nach weiteren zwei Tagen fuhr der Fischkutter Spéir aufs Meer hinaus, an Bord drei Mann Besatzung, Eamon und seine Eltern, ein seekranker Pfarrer und der tote Matrose. Der Pfarrer las bleich und schwankend ein paar Sätze aus der Bibel, danach bekreuzigten sich alle und murmelten ein Amen in den Wind. Hungrige Möwen warteten vergeblich darauf, dass etwas für sie abfiel. Statt unbrauchbaren Meeresgetiers rutschte die in weißes Tuch gewickelte Leiche auf einem Brett, das die beiden Söhne des Kapitäns über die Reling hoben, in die aufgewühlte See. Der Leichnam tauchte ins Wasser ein und schnellte wieder hoch, um dann rasch zu versinken. Eamon warf ihm heimlich den Schlüssel hinterher, begleitet von einem stummen Gruß, einer unausgesprochenen Entschuldigung.
Die Schafe bekamen ihren Stall zurück, die Decke wurde auf Paudraigs Bett gelegt, wo sie hingehörte, und das Boot, das den Matrosen nicht gerettet hatte, verkaufte Eamons Vater an einen Fischer. Das Geld reichte für die Bezahlung des Kapitäns und seiner Söhne, für das Leichentuch, das jetzt am Grund des Meeres lag, und eine Kerze in der winzigen Kapelle des Friedhofs von Kindrum. Es blieb sogar noch etwas übrig, mit dem ein neuer Kochtopf gekauft wurde.
Die graue Wolldecke, von deren Art in den folgenden Tagen und Wochen noch mehrere an die umliegenden Küsten geschwemmt wurden, sollte Eamon auf Geheiß des Vaters verbrennen. Doch Eamon wusch die Decke heimlich in einem Bach, ließ sie an einem Ast trocknen und legte sie dann zu der Truhe in den alten Dachsbau. Manchmal, wenn sein schlechtes Gewissen ihn zu erdrücken schien, holte er die Decke hervor und trug sie auf eine Felskuppe über dem Meer. Dort legte er sich hin, sah in den Himmel und strich mit den Handflächen über den groben Stoff, als könne er so nachholen, was er nie getan hatte. Er hatte den sterbenden Matrosen angepackt, herumgeschleppt und abgeladen. Er hatte ihn gefüttert, seinen Blick gemieden, gefürchtet. Wie einen Menschen berührt hatte er ihn nie.
Es gab keine festen Essenszeiten. Orla sorgte dafür, dass abends immer ein Topf mit etwas Warmem auf dem Herd stand. Davon konnte Eamon sich holen, wann er wollte. Seit Wilbur da war, setzte Orla sich mit dem Jungen zu den ungewöhnlichsten Zeiten in die Küche, um mit ihm ein Schüsselchen Brei, ein Butterbrot, einen Teller Suppe oder einen Pfannkuchen mit Ahornsirup zu teilen. Wenn der alte O’Reilly mit dem Fish-and-Chips-Wagen seine Runde einmal ausdehnte und vor dem McDermott-Haus auf die Hupe drückte, kaufte Orla ihm jedes Mal eine Tüte ab. Dann roch es in der Küche nach Fritteusenöl und Fisch und dem Essig, mit dem Wilbur seine Fritten getränkt haben wollte. Noch immer drückte der Junge nach jedem Bissen die Augen zu und verzog das Gesicht, aber nicht aus Ekel, sondern aus der gleichen absurden Verzückung heraus, mit der ein Trinker nach einem Schnaps Grimassen schneidet.
Nach dem Essen gingen sie in das Zimmer, das Orla eingerichtet hatte, während ihr Mann in Amerika war, um Wilbur zu holen. Sie hatte den dunkelgrün gestrichenen Wandverputz mit einem gebrochenen Weiß übermalt, hatte einen weichen blauen Teppich verlegen und eine neue Deckenlampe montieren lassen, hatte Vorhänge genäht, auf denen Marienkäfer liefen, eine Kommode, einen Schrank, einen kleinen Tisch und einen Stuhl gekauft, ein paar Bilder mit Motiven aus bekannten Märchen aufgehängt und schließlich das alte Bett ihrer Tochter weiß gestrichen und in die Mitte des Raumes gestellt.
Darin lag Wilbur jetzt, satt und glücklich und den Blick auf das Gesicht der Frau gerichtet, die er liebte. Orla saß neben dem Bett auf dem kleinen roten Stuhl und las ihm aus einem Buch vor. Es ging um Königstöchter und verwunschene Wälder, goldene Ringe und Tiere, die sprechen konnten. Wilbur wusste nicht, wovon die Rede war, und dennoch lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit.
Eamon hatte nichts von dem Stew gegessen, das seine Frau für ihn auf den Herd gestellt hatte. Wie jeden Tag war er nach dem Mittagstee zu Fuß die zweieinhalb Kilometer über sein Land bis zur Kirche gegangen, die wie eine dunkle Festung am Rand der mit farblosem Gras bewachsenen Klippe stand. Eamons Kirche war ein umgedrehter Kahn aus grauem Stein, kieloben in einem Meer aus windbewegten Halmen treibend, ein Bau ohne Fenster und Turm. Ein gekentertes Schiff, riesig und düster über dem Tosen der Brandung aufragend, erbaut von Männern, die wütend und ratlos davongelaufen waren, als er ihnen am Ende sogar eine Tür verweigert hatte. Eamons Kirche war eine Opfergabe an Gott, Sühnewerk einer verlorenen Seele, Grabmal eines Lebenden.
Dort, wo die Treppenstufen aufhörten, lag brackiges Wasser. Eamon ging gebückt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, in der Haltung eines reuigen Sünders durch den Tunnel, dessen Wände und Decke aus grobem, mit Moos überzogenem Stein waren. Im finsteren Bauch des Gewölbes richtete er sich ein wenig auf, blieb in der Stille seines Atems stehen und wartete, stand da und wartete, dass Gott zu ihm sprach.