Später in dieser Nacht sitze ich hinter dem Empfangstresen und vertreibe mir die Zeit damit, die Karteikarten mit den Personalien der Dauergäste neu auszufüllen. Randolphs Schrift ist kaum zu entziffern, winzig und kringelig, und Leonidas hat auf die Rückseite jeder Karte Bemerkungen gekritzelt. Bei Elwood, der mit Nachnamen Watts heißt, steht zum Beispieclass="underline" VORSICHT! RELIGIÖS, KEINE SCHERZE ÜBER GOTT! daneben: SCHWERHÖRIG. Anthony Howard Mazursky hat den Eintrag STUR UND EINFÄLTIG, KEINE DISKUSSIONEN ÜBER POLITIK, KULTUR, KRIMINALITÄT. Die letzten drei Wörter sind durchgestrichen und mit IRGENDWAS! ersetzt. Auf der Rückseite von Spencers Karte steht: REDET NICHT, BESCHWERT SICH NIE. DER PERFEKTE GAST. SCHWESTER IN KALIFORNIEN (ZELDA). Ich setze seinen Todestag dazu und stecke die Karte ein.
Alfred und Enrique sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Sie haben den restlichen Gin getrunken und halten ein schläfriges Gespräch in Gang. Ich höre ihr Lallen und Glucksen und rauhes Lachen über etwas, das mit Sicherheit nicht witzig ist, und schwöre mir, nie wieder einen Schluck Alkohol zu trinken.
Enriques Boden mache ich unter der Bedingung, dass er im Gegenzug Mazursky bei seinem hilft. Alfred ist der einzige der Dauergäste, der seinen schmuddeligen Teppich behalten will. Er behauptet, die Arbeit lohne sich nicht, weil er das Hotel bald verlasse. Nach dem kläglichen Scheitern seiner Versuche, bei Zelda Prescott zu landen, wollte er eine Weile nichts mehr von Frauen wissen, aber jetzt wärmt eine neue Flamme sein altes Herz. Sie heißt Iris Rawlings, ist seit drei Jahren Witwe und kinderlos. Ihr Mann hatte eine Druckerei besessen, nichts Großes, sagt Alfred, aber in einer guten Gegend. Das Gebäude alleine habe vermutlich über eine Million gebracht. Alfred hat Iris bei einer Dichterlesung in der öffentlichen Bücherei kennengelernt, wo sie ehrenamtlich arbeitet. Er hat mit Poesie etwa so viel am Hut wie mit seriöser Arbeit oder Steuererklärungen, aber er ist ein begnadeter Schauspieler und genial, wenn es ums Improvisieren geht. Bei seiner ersten Begegnung mit Iris muss er zu Höchstform aufgelaufen sein, denn schon eine Woche später hat er davon gesprochen, mit ihr zusammenzuziehen.
Wir haben auch ohne Alfreds Zimmer genug zu tun. Unter Mazurskys Teppich kommen keine Holzdielen, sondern schimmlige Spanplatten zum Vorschein, was bedeutet, dass wir Parkettboden auftreiben müssen. Mit Winstons Hilfe finden wir einen Restposten Eiche dunkel für achtzig Dollar. Die Hälfte davon bezahlt Randolph aus der Kasse für Instandhaltungsarbeiten, Mazursky übernimmt die andere Hälfte. Wegen seines verstauchten Fußes kann er Enrique und mir beim Entfernen des Teppichs und der Spanplatten nicht helfen, dafür erzählt er uns seine Lebensgeschichte, inklusive Kindheit in Hell’s Kitchen, Gaslampen und Bandenkriegen. Er beteuert, früher ein toller Hecht gewesen zu sein, zählt die Namen seiner Freundinnen auf und kramt verblichene Fotos aus der Kommode, die auf dem Flur steht. Er macht uns mit seiner Theorie zur Ermordung Kennedys vertraut und schildert die erste Mondlandung, als wäre es gestern gewesen. In einem Nebensatz erwähnt er eine gescheiterte Ehe und ein Kind, verklärt seine Zeit beim Militär und zeigt uns Briefe ehemaliger Kameraden, die alle tot sind oder irgendwann aufgehört haben, ihm zu antworten. Was er nicht erzählt, ist, warum es ihn an diesen Ort verschlagen hat, und wir fragen ihn nicht danach.
Mazurskys Einweihungsfest ist rauschender als das von Elwood. Ran dolph überrascht alle und lässt von einem nahen Imbisslokal Essen für uns kommen, und obwohl im Hotel laut Hausordnung Alkoholverbot herrscht, drückt er beide Augen zu und trinkt mehr, als er verträgt. Am Schluss sind außer mir und Dobbs alle betrunken, sogar Elwood, der behauptet, man habe ihm das Bier als alkoholfrei angedreht.
Nachts sitze ich hinter dem Empfangstresen, lese oder surfe im Internet. Leonidas schickt mir regelmäßig Mails. Er ist von Griechenland über die Türkei nach Deutschland gereist und lebt jetzt in Berlin mit einer Gruppe von Malern und arbeitslosen Schauspielern. Er schreibt, Sprache sei überholt, die bildende Kunst habe ihm die Augen geöffnet. Wenn er nicht gerade seinen Lebensunterhalt mit unterbezahlten und gesundheitsgefährdenden Aushilfsarbeiten verdient, malt er im Keller des Wohngemeinschaftshauses Bilder. Ich berichte ihm, was im Hotel läuft, dass wir zwei neue Dauergäste haben, Harvey und Joe, und dass Spencers Zeichnungen die Sitzecke in der Lobby adeln. Dass ich ein paar der Zimmer renoviert habe, schreibe ich ihm auch.
Er schickt mir digitale Aufnahmen seiner Werke als Fotodateien und bittet mich um Bilder der verwandelten Zimmer. Leonidas’ Gemälde sind zwei mal drei Meter groß und ungegenständlich, eine Stilrichtung, die ihm als blutiger Anfänger am meisten entgegenkommt. In einem Fotoladen leihe ich mir eine Digitalkamera und mache Aufnahmen von Dobbs’, Elwoods, Mazurskys und meinem Zimmer und von der Galerie in der Lobby. Während ich die makellos weißen Wände mit den gerahmten Bildern fotografiere, fällt mir auf, wie heruntergekommen der Rest der Lobby ist.
Am nächsten Tag hebe ich eine Ecke des Teppichs neben einem Sofa hoch und sehe, dass darunter ein tadellos erhaltener Holzboden liegt. Der Teppich ist nicht verleimt, sondern mit Messingschienen an den Boden geschraubt. Ich frage Randolph, ob er etwas dagegen hat, wenn ich die Lobby ein wenig aufpoliere, und er lässt mir freie Hand. Enrique, Alfred und Harvey, einer der beiden neuen Dauergäste, helfen mir dabei, die Möbel zu verrücken. Harvey Kurz ist dreiundsiebzig und der optische Zwillingsbruder von Gene Hackman. Er hat ein Vierteljahrhundert lang als Außendienstmitarbeiter Rasenmäher verkauft und dann, nachdem sein Arbeitgeber in Konkurs ging, noch einmal so lange die unterschiedlichsten Jobs gemacht, von Gärtner, Wachmann und Kellner bis zu Autowäscher und Küchenhilfe, immer ein wenig schlechter bezahlt, immer ein wenig entwürdigender. Wie alle alten Männer im Hotel, hat auch Harvey keine Verwandten, die sich um ihn kümmern oder ihn sogar aufnehmen könnten. Sein älterer Bruder, mit dem er sich eine winzige Wohnung in Queens geteilt hat, ist vor zwei Monaten gestorben, und alleine brachte er das Geld für die Miete nicht mehr auf. Jetzt wohnt er bei uns, im Zimmer neben Dobbs. Er sagt, er bleibe wahrscheinlich nicht lange, das New Yorker Klima bekomme ihm immer weniger. Aber ich glaube, Harvey wird uns eine Weile Gesellschaft leisten. Er ist ein umgänglicher Kerl, sogar mit Mazursky versteht er sich erstaunlich gut, obwohl der ihn schon am ersten Abend bezichtigt hat, beim Poker zu betrügen. Außerdem ist Harvey pleite. Er bekommt Sozialhilfe, aber das ist zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Auf jeden Fall reicht es nicht, um in Key Largo einen Laden für Angelzubehör zu eröffnen.
Wir rollen den Teppich auf und tragen ihn in den Heizungsraum. Ich kaufe Spachtelmasse, um die Risse und Nagellöcher und tiefen Kratzer zu füllen. Es gibt das Zeug in verschiedenen Farbtönen, und wenn es ausgehärtet ist, sieht es aus wie Holz. Dann schleifen wir den Boden, aber nur, um die Flecken und feinen Schrammen zu beseitigen. Enrique hat einen Aushilfsjob in einem Supermarkt gefunden und muss uns am frühen Nachmittag verlassen, aber Harvey und Alfred bleiben, und sogar Mazursky widmet sich hingebungsvoll einer Ecke und erinnert uns alle paar Minuten mit einem lauten Stöhnen daran, dass ihm sein Fuß noch immer Schmerzen bereitet. Alfred ist schlecht gelaunt, weil Iris ohne ihn nach Denver geflogen ist, wo einer ihrer Neffen heiratet.
«Vermutlich hält sie mich für nicht vorzeigbar«, sagt Alfred.