Ich sehe noch, wie Harvey mir aufmunternd zunickt, dann renne ich hinaus auf die Straße, wo Aimee gerade in einem Taxi davonfährt. Auf dem Gehsteig steht eine Kiste, eine zweite trägt Winston in seinen Laden. Damit ist auch die Frage geklärt, warum sich ein Taxi in unsere Straße verirrt hat. Eine Weile stehe ich noch da und lausche dem Echo meines letzten Satzes, dann hebe ich die Kiste hoch und bringe sie Winston. Er steht vor einem Klapptisch und wickelt kleine Porzellanfiguren aus Zeitungspapier.
«Ich wollte sie noch mit einem Schwätzchen über das Wetter aufhalten, aber sie schien es sehr eilig zu haben«, sagt Winston und betrachtet eine Figur, die einen im Stroh schlafenden Bauernjungen darstellt. Ein Schlapphut liegt auf dem Gesicht des Jungen, auf seinem Bauch hockt ein dösendes Huhn. Winston kann sich kaum satt sehen an den Details und der kunstvollen Bemalung.»Deine Freundin?«Er schiebt die Brille hoch und sieht mich kurz an, um sich dann einer anderen Figur zuzuwenden, einer Frau in wallenden Gewändern, die sich mit einer Hand auf ein Gewehr stützt und auf deren abgewinkeltem Arm ein Falke sitzt. Winson kneift die Augen zusammen, seufzt.
Ich stelle die Kiste auf den Boden neben die andere.»Ich weiß nicht mal, wo sie wohnt.«
Winston stellt die Figuren in eine Vitrine.»Danke fürs Reintragen«, sagt er.
Ich murmle ein» Nichts zu danken «und gehe zur offenen Tür.
«Will?«
Ich bleibe stehen und drehe mich um.
«Du wirst sie schon finden. «Winston hält die Figur eines sich umschlingenden Paares in der Hand, um das sich Gänse scharen.
Ich nicke, vermutlich nicht sehr überzeugend, dann verlasse ich den Laden.
Am nächsten Tag bin ich früh wach. Die Nachtschicht ist mir endlos lang vorgekommen, weil keiner der Männer in der Lobby war und nicht mal Dobbs runterkam, um mir Gesellschaft zu leisten. Am Ende der Schicht war ich hundemüde, aber schlafen konnte ich trotzdem nicht. In der Küche habe ich mir eine Tasse Kaffee und einen Doughnut geholt und sitze in der Lobby auf einem Sofa. Randolph verhandelt mit einem Gast den Preis für ein Zimmer. Der Mann, der nicht viel älter als sechzig ist, trägt eine graue Hose und eine blaue Jacke, aus der sein kleiner bleicher Kopf ragt wie aus einem vom Wind geblähten Zelt. Offenbar werden die beiden sich einig, denn der Mann legt Geld auf den Tresen, nimmt seinen Koffer und die Tasche und schlurft die Treppe hoch. Ich sehe mir die drei Säulen an, die zwischen dem Fliesenboden des Empfangsbereichs und den renovierten Dielen der Sitzecke stehen und deren Holzverkleidung von einer Schicht dunkelbrauner Farbe überzogen ist. Nachdem ich den Kaffee ausgetrunken habe, stehe ich auf und klopfe mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen das Holz.
«Ich wette, das waren mal sehr schöne Säulen aus einem guten Holz«, sage ich.
«Schon möglich«, sagt Randolph, ohne vom Bildschirm des Computers aufzusehen. Wenn draußen kein Auto vorbeifährt, ist das leise Klacken der Tastatur zu hören. Manchmal rauscht Wasser durch eine Röhre in den Wänden. In der zweiten Etage stochert ein Schlüssel im Loch, dann schließt sich eine Tür. Der neue Gast steht jetzt in seinem Zimmer und fragt sich, wie es so weit kommen konnte. Wenn er lange genug bleibt, reiße ich ihm den Teppich unter den Füßen weg und poliere ihm den Boden so blank, dass er nie mehr weg will. Müdigkeit erfasst mich bei dem Gedanken, die restlichen achtundzwanzig Zimmer des Hotels zu renovieren, aber auch eine seltsame Ruhe. Randolph dreht an der Skala des Radios, knisternde Stimmen ertönen und Fetzen prasselnder, verzerrter Musik.
«Die Farbe lässt sich abbeizen. Dauert zwei Tage pro Säule, vielleicht drei. «Ich löse mit dem Fingernagel ein Stück Farbe vom Holz.
«Mir gefallen sie, wie sie sind«, sagt Randolph.
«Vielleicht helfen mir Dobbs und Alfred, dann sind wir in einer Woche fertig. «Ich gehe zur Empfangstheke und fahre mit der Hand über die zerkratzte Arbeitsfläche.»Abgeschliffen und geölt könnte das ein Schmuckstück sein. «Ich klatsche mit der flachen Hand auf das Holz, damit Randolph merkt, dass ich von der Theke rede.
Randolph dreht das Radio leiser und sieht mich an.»Warum tust du das, Will?«
«Was meinst du?«
«Warum lebst du hier? Warum arbeitest du hier? Warum bist du besessen von der Idee, jedes Stück Holz in diesem Hotel freizulegen?«
«Was soll das? Ich brauche ein Dach über dem Kopf und einen Job. Und in meiner Freizeit renoviere ich ein paar Zimmer.«
«Stimmt das mit deinem Vater?«
Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass alle, die gestern Abend in der Lobby waren, die Unterhaltung zwischen Aimee und mir mitbekommen haben. Laut genug waren wir ja. Mein Blick ist auf die Holzfläche gerichtet, deren mit Schmutz und Tinte verfärbten Kratzer ein dunkles Gewirr bilden, in dem hastig eingeritzte Initialen und Symbole zu erkennen sind.
«Kann ich den Schlüssel für den Abstellraum haben?«frage ich schließlich und so kühl und beherrscht wie möglich. Ich habe keine Lust, mich mit Randolph über meinen Vater zu unterhalten.
«Wozu?«Randolph sieht mich noch immer an, was sehr ungewöhnlich ist, denn meistens gibt er einem das Gefühl, man sei einen Blickkontakt nicht wert.
«Ich will die Leiter holen, das Werkzeug.«
«Wozu?«
Jetzt sehe ich Randolph ins Gesicht.»Hab ich doch gesagt! Ich will die Säulen abbeizen!«
«Und ich habe gesagt, mir gefallen sie, wie sie sind«, sagt Randolph ruhig.
«Aber unter dieser hässlichen Farbe liegt schönes Holz verborgen!«»Meinetwegen kann darunter Marmor liegen. Die Säulen bleiben so.«
Eine Weile starre ich Randolph an. Ich merke, wie mein ganzer Kopf rot und warm wird vor Wut, vielleicht sogar anschwillt. In Randolphs Gesicht rührt sich kein Muskel, es ist ein stiller See, in den man einen Stein werfen möchte. In meinem Hirn blitzen Beschimpfungen auf, aber Fassungslosigkeit und plötzlicher grenzenloser Hass auf Randolph verhindern, dass ich den Mund öffne. Ich drehe mich um und gehe zur Treppe. Hinter mir ertönt ein loses Stück Musik, dann erfüllt das monotone Murmeln eines Börsengurus die Halle.
Zwei Stunden später klopft es an meine Tür. Ich liege auf dem Bett und lese eine Kurzgeschichte von Tschechow, aber ich kann mich nicht konzentrieren, brauche eine Ewigkeit für eine Seite und habe beim Umblättern schon wieder alles vergessen. Alfred und Harvey stehen auf dem Flur, hinter ihnen sehe ich Dobbs.
«Können wir mit dir reden?«fragt Alfred, und er klingt, als habe er eine neue Rolle einstudiert, die des ernsthaften Unterhändlers, des taktvollen Überbringers gewichtiger Nachrichten.
«Sicher. «Ich mache einen Schritt zur Seite, und die drei treten ein. Dobbs lächelt und senkt den Blick, ein kleiner Junge beim Besuch im Büro des Schuldirektors. Ich werfe die Tagesdecke über das Bett und setze mich auf den Stuhl. Dobbs und Harvey nehmen auf dem Bett Platz.
«Also, Will«, sagt Alfred,»es ist so…«Er wirft einen raschen Blick auf seine Freunde, bevor er weiterredet.»Wir sind ja nun nicht mehr die Allerjüngsten, und was die Gesundheit betrifft, so haben wir doch mit den verschiedenen Auswirkungen des Zerfalls zu kämpfen. «Er macht eine Pause und sieht mich an, als erwarte er meinen Einspruch. Aber ich bin nicht in der Stimmung für geistreiche Bemerkungen und schweige. Außerdem bin ich gespannt, worauf Alfred mit seiner geschwollenen Ansprache hinauswill. Alfred räuspert sich und faltet die Hände.»Unsere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt sind, sagen wir es mal so, recht limitiert.«
Harvey nickt und murmelt etwas. Dobbs zupft Fusseln von seiner Hose.
«Aus diesen Gründen haben wir gestern mit Randolph gesprochen. Und sind uns einig geworden. «Alfred verstummt wieder.
«Ach ja?«sage ich.»Und worüber?«Ich sehe Dobbs so lange an, bis er meinen Blick erwidert.
«Über die Arbeiten«, sagt Dobbs leise,»hier im Hotel.«
«Randolph gibt uns die Zimmer billiger, wenn wir ein paar Jobs übernehmen. «Harvey erhebt sich, und Dobbs beeilt sich, ebenfalls aufzustehen.