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Alice und Nathalie waren einen Tag nach meiner Flucht mit meinem Vater zu einem Arzt gegangen. Der Schlaganfall hatte sein Hirn geschädigt, seine linke Seite gelähmt und ihm die Sprache genommen. Von Verna Kerkowskis Geld wurde eine zweiwöchige Therapie in einer Klinik bezahlt. Der Zustand meines Vaters hatte sich kaum verändert, aber immerhin hatte er ein wenig an Gewicht zugelegt. Das erste Wort, das er von sich gegeben hatte, war Ball. Hätte man ihm ein anderes Wort eingetrichtert, hätte er es ebenfalls irgendwann nachgesprochen. Das Gute an dem Schlaganfall war, dass mein Vater sich nicht mehr betrinken wollte. Vielleicht hatte sein beschädigtes Hirn schlicht vergessen, dass es früher von dem brennenden Gedanken angetrieben worden war, sich mit Alkohol zu tränken. Falls er körperliche Entzugserscheinungen gehabt hatte, waren diese wahrscheinlich in den ersten Wochen aufgetreten, als er in seinem Zimmer lag, von Verna ins Bett gesteckt, als habe ihn bloß eine Grippe erwischt.

Die Ärzte meinen, mein Vater würde nie mehr derselbe sein wie früher, aber da ich nicht weiß, wie er früher war, gibt es nichts, worum ich trauern könnte. Dass er mich vielleicht nie erkennen und mir nie erzählen können wird, warum er mich damals im Stich gelassen hat, muss ich wohl hinnehmen. Meine Fragen und meine Wut werde ich für mich behalten müssen. Dreimal in der Woche übt er in der Klinik mit einer Therapeutin so simple Dinge wie das Ergreifen und Festhalten von Gegenständen oder sich zu kämmen. Jede Woche lernt er ein neues Wort, vielleicht auch irgendwann Will oder Sohn. Ob er jemals die Bedeutung dieser Worte begreifen wird, können die Ärzte nicht sagen.

Bevor ich mich in meinem Zimmer ins Bett legte, um schlaflos an die Decke zu starren, fragte ich Alice nach Aimee. Sie rief vor ein paar Wochen hier an und sagte, sie wisse, wo ich sei, und es gehe mir gut. Obwohl Alice sie anflehte, ihr meinen Aufenthaltsort zu verraten, schwieg Aimee und meinte, ich würde mich zu gegebener Zeit melden, jedenfalls hoffe sie das. Sie fragte nach Lennard Sandberg, und Alice erzählte ihr von der Suche nach meinem Vater und dem Schlaganfall und meiner Reaktion auf alles.

Wir halten vor dem Haus mit der Flagge, und der Himmel ist so blau und hell, dass ich beim Betreten der Eingangshalle das Gefühl habe, in eine dunkle Gruft zu taumeln. Ich schwitze und bringe es nicht fertig, in den Fahrstuhl zu steigen, und so nehmen wir zusammen die Treppe in den elften Stock. Vor der Wohnungstür schnappe ich nach Luft, die Augen geschlossen. Alice nimmt meine Hand, und die Faust öffnet sich. Sie sagt etwas, ihre Stimme ist sanft und ruhig, und ich nicke. Sekunden nachdem Alice geklingelt hat, öffnet Nathalie die Tür. Sie hat sich verändert. Ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Augen und Bewegungen, alles ist anders, lebendiger. Ich bin überrascht, als sie mich umarmt, und lasse es geschehen. Aus der Küche dringt leise Musik.

Ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen. Ein Teil von mir beantwortet Fragen und nimmt wahr, dass die Musik ein Walzer ist, der Rest atmet heftig, geht durch den schummrigen Flur und betritt das hinterste Zimmer. Mein Magen ist ein leerer Ballon, ich schwebe. In meinem Kopf ist plötzlich Stille. Ich bin klein, noch kleiner als in Wirklichkeit. Mein Herz schlägt langsamer, Ruhe erfasst mich wie ein warmer Wind.

Mein Vater sitzt aufrecht im Bett, und vermutlich bilde ich mir nur ein, dass er lächelt. Ich setze mich zu ihm und nehme noch einmal seine Hand.

Drei Wochen später stehe ich in der Bronx am Eingang des Zoos in der Fordham Road. Heute Morgen um elf habe ich das rot und weiß gestrichene Haus mit der schwarzen Feuerleiter gefunden. Fünfeinhalb Tage brauchte ich dazu. Eine von Aimees Mitbewohnerinnen streckte den Kopf aus dem Fenster, und nach langem Hin und Her verriet sie mir endlich, dass Aimee bei Stewart im Zoo sei. Als ich ging, rief sie mir nach, ich soll Aimee in Ruhe lassen. Ich habe mich nicht mehr nach ihr umgedreht, bin losgerannt und habe mir auf der Webster Avenue ein Taxi geschnappt.

Obwohl es der erste einigermaßen warme Tag des Jahres ist, sind nicht viele Besucher da. Ich bezahle Eintritt und sprinte los, über einen Platz, wo gebaut wird, vorbei am Affenhaus und einen gewundenen Weg zwischen Bäumen entlang. Nach einer Biegung kommt mir eine Schulklasse entgegen, und ich pralle fast in die vordersten Kinder und eine Lehrerin hinein. Immer zwei Kinder halten sich an der Hand, alle tragen gelbe Mützen und sehen mich an, als sei ich ein entlaufenes Tier. Vor einem Café sitzen alte Leute und recken die Gesichter in Richtung Sonne. Ich frage einen Mann, der einen Wegweiser repariert, nach Stewart, aber der Kerl kennt ihn nicht. Ein Reiher oder Kranich läuft über den Weg und verschwindet in einer Gruppe von Büschen. Ich könnte auch normal gehen, trotzdem renne ich, überzeugt, dass jede Sekunde zählt.

Auf einem Platz rufe ich laut nach Aimee, und vom Dach eines Gebäudes fliegen Vögel hoch, Tauben. In der Wiese neben einem Weg steht ein Fahrzeug. Auf der Ladefläche liegen Holzpfosten, Rollen mit Draht und Werkzeuge. Zwei Männer heben mit Spaten Löcher aus der Erde. Sie kennen Stewart, wissen aber nicht, wo er ist. Ich bedanke mich und trabe schwitzend und keuchend weiter. Einer der Männer ruft mir nach, ich dürfe hier nicht rennen. Auf einem Platz sitzen Kinder auf Klappstühlen und zeichnen Flamingos, die reglos in einem Teich stehen. Ich zwinge mich, zwischen ihnen hindurchzuschlendern, dann hetze ich weiter.

Aimee steht auf einem eingezäunten Stück Land, neben sich Stewart. Gelbe Helme sitzen auf ihren Köpfen. Die beiden halten ein großes Stück Papier in den Händen, einen Plan vermutlich, und Stewart deutet mit einem Arm über die aufgewühlte Erde hinweg. Ein Bagger schiebt einen Felsbrocken vor sich her. Bäume, deren Wurzelballen in Plastik gewickelt sind, liegen herum. In einer entfernten Ecke des Geländes sind Arbeiter damit beschäftigt, noch mehr Bäume von einem Lastwagen zu laden.

Ich klettere über eine Absperrung, hinter der ein Streifen ungemähter Rasen liegt, und bleibe vor einem Betongraben stehen. Der Graben ist mit schmutzigem Wasser gefüllt, auf dem Blätter treiben. Das Wasser ist braun, hat die Farbe von Tee. Ich kann den Grund sehen, Steine und Äste, möglicherweise sogar etwas Lebendiges, Wuselndes. An einer Seite ist der Graben von einem hohen Drahtzaun begrenzt, an der anderen beschreibt er eine Kurve und verläuft ins Endlose. Ich rufe nach Aimee, aber der Lärm des Baggers übertönt alles. Der Zaun ist mindestens drei Meter hoch, ganz oben verläuft Stacheldraht, in dem bunte Plastikfetzen flattern. Stewart faltet den Plan zusammen und legt seinen Arm um Aimee, und ich denke daran, einen Stein nach ihm zu werfen. Aber ich bin ein schlechter Schütze, ich würde nicht einmal den Bagger treffen. In der Sekunde, in der ich Aimees Namen brülle, verstummt der Bagger.

Aimee dreht sich zu mir um, und ich winke. Ich habe meine Probleme gelöst. Ich wohne nicht mehr im Hotel der alten Männer. Ich begleite meinen Vater dreimal in der Woche zur Therapie, und in der restlichen Zeit bringe ich ihm bei, wie man einen Löffel hält und sich Socken anzieht. Ich schiebe ihn im Rollstuhl durch den Park und sage jedes Mal das Wort Hund, wenn uns einer begegnet, Baum, wenn wir einen sehen. Einen Job habe ich auch, ich trage Lunchpakete in die Bürohäuser, wo es Leute gibt, die in der Mittagspause etwas Gesundes essen wollen. Ernest hatte die Idee, und der Kundenkreis wird immer größer. Noch immer habe ich seit Spencers Beerdigung keinen Tropfen Alkohol getrunken. Sogar mein Gedächtnis funktioniert wieder. Ich kann mich daran erinnern, wo ich ins Meer gefallen bin. Ob man mich jetzt schon als normal bezeichnen würde, bezweifle ich, aber ich denke, ich mache Fortschritte.

Aimee ist ein Stück in meine Richtung gegangen, Stewart folgt ihr. Er fuchtelt mit den Armen. Der Motor des Baggers springt brummend an, schwarze Abgaswolken steigen in den Himmel. Ich renne den Graben entlang, aber hinter der Biegung versperrt mir eine Mauer aus Felsblöcken den Weg. Schaufeln stecken in der Erde, am Boden liegen Zementsäcke.