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Ich bleibe stehen, schwindlig vom Rennen. Dann springe ich in den Graben. Das Wasser ist kalt und tief. Für einen Augenblick, eine Sekunde, eine Ewigkeit, ist es still und dunkel. Ich schlage mit den Armen und Beinen, schlucke Wasser.

Ich will nicht ertrinken.

Ich ertrinke.

Unbreakable, 2000

Als Wilbur aufwachte, war der größte Teil der Woche, für die er im Voraus bezahlt hatte, vorbei. Er zog die Kleider aus, in denen er geschlafen hatte, und ging ins Badezimmer auf dem Flur, um zu duschen. In frischer Unterwäsche, der alten Hose und dem zerknitterten Hemd setzte er sich in ein Imbisslokal und trank drei Tassen Kaffee. Nüchtern, wach und aufgeputscht vom Koffein, kam ihm seine Lage dermaßen trist und ausweglos vor, dass er gegen die Tränen kämpfte. Als die Kellnerin ihn besorgt ansah, legte er Geld auf den Tisch und verließ das Lokal.

Weil es kalt war und er trotz der dicken Daunenjacke fror, ging er zurück ins Hotel, wo ein paar der Gäste, ausnahmslos alte Männer, die Sessel und Sofas der Lobby besetzt hielten. Vom Portier, der nur tagsüber arbeitete und weit weniger gesprächig als sein Kollege von der Nachtschicht war, lieh er sich ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber, ging auf sein Zimmer und schrieb Alice einen Brief.

Später nahm er einen Bus zur Post, blieb sitzen und fuhr weiter bis in die Nähe des Reformkostladens. Seine Geldreserve schmolz, und er dachte daran, sich etwas von Ernest zu leihen, aber als er vor dem Schaufenster stand, kam er sich so erbärmlich vor, dass er wegging.

Eine Woche später arbeitete Wilbur für eine Transportfirma, deren Lastwagen den Hausrat von umziehenden Familien an den neuen Wohnort irgendwo in Amerika brachten. Weil Wilbur für das Schleppen von Möbeln und Kartons zu wenig kräftig und für das Fahren eines Gabelstaplers nicht qualifiziert war, wurde er einer Gruppe von zwei Männern und drei Frauen zugeteilt, die sich um das Verpacken kleiner und zerbrechlicher Güter kümmerten. Den ganzen Tag wickelte er in fremden Häusern Vasen, Lampen und Porzellanhunde in Luftpolsterfolie, meistens argwöhnisch beobachtet von Bediensteten oder den Hausfrauen, die das Einpacken ihrer Schätze zwar nicht selber besorgen, aber unbedingt überwachen wollten.

An den Wochenenden floh Wilbur aus der Enge seines Hotelzimmers in eine Gegend im Osten Brooklyns, in die sich Alice oder Ernest und Rebecca kaum verirren würden. Er fand ein libanesisches Lokal, wo es den Kellnern egal war, wenn er einen ganzen Nachmittag nur Kaffee trank und heimlich mitgebrachte Brote aß. Es kümmerte sie auch nicht, dass er einen ganzen Tisch mit Notizheften, Büchern aus der Bibliothek und den Seiten der Bruce-Willis-Biografie bedeckte, an der er nach einem längeren Unterbrechung wieder zu arbeiten begonnen hatte. In einem Anflug von Zuversicht, deren Ursprung Verzweiflung war, redete Wilbur sich ein, das fertige Manuskript schon bald bei einem Verlag unterzubringen und Geld dafür zu bekommen. Vor ein paar Tagen hatte er zudem eine alte Gewohnheit wieder aufgenommen und hielt sich in Internetcafés über das Privatleben von Willis auf dem laufenden, das die Betreiber zahlloser Fanwebseiten mit detektivischer Gründlichkeit und skrupelloser Neugier verfolgten. Obwohl er in seinem Buch keinen Klatsch aus zweiter und dritter Hand verwendete und sich auf die Karriere und Filme des Schauspielers konzentrierte, half ihm das Lesen dieser gesammelten Indiskretionen, die Verbindung zum Objekt seiner zwischenzeitlich abgekühlten Leidenschaft nicht zu verlieren.

In einem Ramschladen, der sich starrköpfig Freeman Antiquitäten nannte und dessen schwarzer Besitzer, Winston Freeman, den größten Teil des Tages damit verbrachte, auf einem Klappstuhl vor seinem Geschäft zu sitzen und für Passanten das Wetter vorauszusagen, kaufte Wilbur eine gebrauchte Reiseschreibmaschine, um die mittlerweile vierhundertfünfzig handgeschriebenen Seiten abzutippen. Weil er das im Restaurant nicht tun konnte und ihm sein winziges, schlecht geheiztes Zimmer nach einer Stunde zur finsteren, jeden Gedanken vernichtenden Zelle wurde, fragte er den Portier nach einem Ort im Hotel, wo es sich in Ruhe arbeiten ließe.

Randolph Byrd, gelernter Buchhalter und nach gescheiterten Ausflügen in die Gastronomie und Bekleidungsbranche auf dem Posten des stellvertretenden Geschäftsführers und Portiers des Hotels gelandet, erlaubte Wilbur, den Heizungsraum im Keller zu benutzen. Randolphs einzige Bedingung war, dass Wilbur nicht nur seine zukünftige Arbeitsstätte, sondern gleich den ganzen Keller aufräumte, eine Arbeit, die Wilbur fünf Tage kostete und in deren Verlauf er, neben viel Staub und Dreck, ein Dutzend von Holzwürmern zerfressene Bettgestelle, halb so viele Kommoden, vier museumsreife Waschmaschinen, drei Trockner und die Skelette zahlloser Ratten und zweier Tiere, die er für Katzen hielt, entsorgte.

Im unwahrscheinlichen Fall, dass jemand Wilbur suchte, fand man ihn abends und an den Wochenenden im warmen Bauch des Hotelgebäudes, wo er, Schaumstoffstöpsel in den Ohren, an einer zum Schreibtisch umfunktionierten Werkbank saß und sein Opus magnum in die Tasten der Smith Corona hämmerte, eingehüllt in das gedämpfte Wummern und Zischen der Ölheizung und das Gurgeln der Wasserleitungen über seinem Kopf. Manchmal arbeitete er die halbe Nacht durch, wach gehalten von Kaffee und der aus einer unbenennbaren Quelle gespeisten Gewissheit, etwas zu erschaffen, das brillant und einzigartig war und sich zudem verkaufen ließ. Doch neben den Momenten vorweggenommener Triumphe gab es Nächte und ganze Wochenenden, an denen Wilbur sein Werk hasste. Je mehr The Life And Death Of Bruce Willis die Form eines Buches, zumindest aber die leidlich sauber getippte Ordnung und den Aufbau eines vorzeigbaren Typoskripts annahm, desto weniger Sinn sah er in dessen Fertigstellung. Er saß in seiner überheizten, gluckernden Katakombe und las das Kapitel über den Film Twelve Monkeys, das er vor einer Woche in einem flüchtigen Rausch der Eitelkeit noch als genial bezeichnet hatte, und kämpfte gegen den Drang, das Papierbündel in einem bereitstehenden Blecheimer zu verbrennen. Eine Woche später überflog er die Seiten, die sich Willis’ Rolle in Pulp Fiction widmeten, und konnte sie nur vor der blindwütigen Vernichtung retten, indem er sie auf der Werkbank liegen ließ und nach oben stürmte, hinaus auf die Straße und in die eisig kalte Wirklichkeit, die ihn daran erinnerte, dass er für sein Zimmer bezahlen und essen musste und dass er schon zu viel Arbeit in das Buch investiert hatte, um es jetzt in einen Haufen Asche zu verwandeln.

So schleppte er sich durch die Tage und Seiten, sah sich in der einen Woche als begnadeten Autor und in der nächsten als weltfremden Trottel, der seine Zeit verschwendete. Allen Zweifeln und Rückschlägen, Wutausbrüchen und Vernichtungsphantasien zum Trotz war das Buch am letzten Februartag fertig. Wilbur ließ die zweihundertachtzig Seiten, auf die er sein Werk gekürzt hatte, fotokopieren und in drei Exemplaren heften. Schon während der Recherchen und vor dem Schreiben der ersten Zeile hatte er drei auf Filmbücher spezialisierte Verlage ausgesucht, deren Interesse zu wecken er überzeugt war, doch als er die Pakete zur Post brachte, wusste er nicht, ob er seine Leistung bewundern oder sich für die Selbstgefälligkeit schämen sollte, zu der er sich im flammenden Begleitbrief hatte hinreißen lassen.

Eine positive Begleiterscheinung des ungezügelten Schreibens war Wilburs völliger Verzicht auf Alkohol. Er hatte von Schriftstellern gelesen, die betrunken zur Höchstform aufliefen, aber bei ihm funktionierte das nicht. Die Seiten, die er unter dem Einfluss von Wodka und Papayasaft in wahnwitzigem Tempo herunterschrieb, erwiesen sich bei nüchterner Betrachtung als unbrauchbar. Außerdem gefährdete die Trinkerei seinen Job bei der Transportfirma. Ein einziges Mal war er leicht verspätet und verkatert zur Arbeit erschienen und von Octavio, dem mexikanischen Chef der Verpackungstruppe, verwarnt worden. Weil es keine zweiten Verwarnungen gab und Wilbur so lange auf das Geld von Stockton Transportation Limited angewiesen war, bis ihm einer der drei Verlage einen Vorschuss bezahlen würde, hatte er mit dem Trinken aufgehört, war von einem Tag auf den nächsten trocken geworden. Wenn die Last der Gedanken an seinen Vater oder Alice gedroht hatte ihn zu erdrücken, war er statt in einer Bar in seiner blubbernden, klappernden Hölle verschwunden und hatte sich mit stickiger Luft und düster leuchtenden Sätzen benebelt.