Jetzt, wo das Buch fertig war und es keinen Grund mehr gab, Stunden und Tage im Heizungsraum zu verbringen, außer vielleicht dem, sich aufzuwärmen, wunderte Wilbur sich nachträglich, wie leicht ihm der Verzicht auf Alkohol gefallen war. Eine Zeitlang versuchte er, ein neues Buch zu schreiben, eine Art Lexikon der kaputten Filmhelden, las Bücher über James Cagney und Humphrey Bogart und Clint Eastwood, gab das Projekt aber nach wenigen Tagen wieder auf. Er verschickte Briefe an die New York Times und mehrere Szeneblätter, in denen er sich als Filmkritiker anbot. Den Anfragen legte er fotokopierte Auszüge aus dem Kapitel über Twelve Monkeys bei und ließ das baldige Erscheinen seines Buches nicht unerwähnt. Die Village Voice und The Onion waren die einzigen, die antworteten. Beide bedankten sich bei Wilbur und brachten ihm mehr oder weniger diplomatisch bei, dass seine Qualifikationen für eine Tätigkeit als freier Mitarbeiter nicht ausreichten. Der Redakteur der Onion war sogar mitfühlend oder sarkastisch genug, Wilbur die Besprechung seines Buches in Aussicht zu stellen, sobald es erscheine.
Diese Absagen und die Tatsache, dass er kein zweites Buch würde schreiben können, waren der Grund, weshalb Wilbur der Aufenthalt im Heizungsraum und der Anblick der Schreibmaschine unerträglich wurden. Er brachte die Schreibmaschine zurück in den Trödelladen und tauschte sie gegen eine Wollmütze, ein Paar Lederhandschuhe und einen Stapel Taschenbücher.
Am ersten Sonntag im März wachte Wilbur ungewöhnlich früh auf. Es war kalt im Zimmer, aber durch die Vorhänge drang Sonnenlicht, in dem ein Universum aus Staubpartikeln glitzerte, sachte bewegt vom Luftzug, der durch das undichte Fenster wehte. Wilbur zog sich an, ging ins Bad und dann hinunter in die Lobby, wo auf einem der Sofas Elwood in seinem besten Anzug saß.
«Guten Morgen!«rief Elwood. Rasiert, gekämmt und im Sonntagsstaat erinnerte er kaum noch an den schlampigen alten Kerl, der tagelang im selben schmuddeligen Trainingsanzug und Badelatschen herumgammelte.
«Morgen«, sagte Wilbur. Er sah sich um, aber außer Elwood war niemand da. Dann erinnerte er sich daran, dass Leonidas am Samstag nur bis Mitternacht arbeitete und Randolph heute erst um zehn auftauchen würde.
«Aus dem Bett gefallen?«fragte Elwood so ernst, dass die scherzhafte Frage besorgt klang.
Wilbur lachte höflich. Das war tatsächlich das erste Mal, dass er um diese Zeit schon wach war. Üblicherweise schlief er am Wochenende bis zehn oder elf. Weil Madame Robespierre sonntags nicht arbeitete, frühstückte er in der Nähe des Hotels und brach dann zu einer langen Wanderung durch die Quartiere auf, eine Gewohnheit, die er nach Beendigung des Buches wieder aufgenommen hatte.
«Ich geh spazieren«, sagte er, setzte die Mütze auf und nahm die Handschuhe aus den Taschen der Daunenjacke.
«Was?«Elwood reckte den Hals, legte eine gekrümmte Hand ans Ohr und zog eine Grimasse, ein Denkmal der Schwerhörigkeit.
«Spazieren«, sagte Wilbur lauter, machte ein paar Schritte auf der Stelle und schlenkerte mit den Armen.
«Ein prächtiger Tag dafür«, sagte Elwood und nickte eifrig. Er roch nach Rasierwasser und Seife, seine Schuhe waren poliert, und neben ihm lag ein schwarzer Filzhut, der heute die Baseballkappe der Dodgers ersetzte.
«Und Sie?«fragte Wilbur, halb aus Höflichkeit, halb aus Neugier.»Warum so früh auf?«Er war näher an Elwood herangetreten und sprach laut und deutlich.
«Oh, ich werde abgeholt«, sagte Elwood.
Wie zur Bestätigung klopfte jemand von draußen an die Scheibe. Elwood stemmte sich aus dem Sofa, setzte den Hut auf und ging durch die von Wilbur offen gehaltene Lücke im schweren Vorhang, der die kalte Luft von der Lobby fernhielt. Wilbur machte die Tür auf, die ohne Schlüssel nur von innen zu öffnen war, und trat hinter Elwood ins Freie. Als Elwood auf dem Treppenabsatz stolperte, hielt Wilbur ihn am Arm fest.
«Hoppla. Geht’s?«
«Ja«, sagte Elwood beschämt über seine Gebrechlichkeit.»Danke.«
Der Mann, der ans Fenster geklopft hatte, kam auf sie zu. Er war klein und schmal, und seine krausen Haare schimmerten im Morgenlicht wie Stahlwolle. Wilbur vermutete, dass er in seinem dünnen schwarzen Anzug fror.
«Sie schickt der Himmel!«rief der Mann an Wilbur gewandt.»Guten Morgen, Elwood.«
«Morgen, Leroy«, sagte Elwood, der sich bei Wilbur untergehakt hatte und mit vorsichtigen Schritten auf einen vor dem Hotel geparkten weißen Kleinbus zuging. Leroy schob die Tür auf und half Elwood in den Wagen, in dem schon mehrere alte Frauen und Männer saßen. Ein Kanon aus Begrüßungen wurde angestimmt.
«Mein Name ist Leroy Perkins«, sagte Leroy und streckte Wilbur die Hand entgegen.
«Wilbur«, sagte Wilbur und ließ sich die Hand schütteln.»Sandberg.«
«Sie sind ein Freund von Elwood?«
«Nun ja, ich kenne ihn erst seit… ich weiß nicht… noch nicht sehr lange.«
Leroy strahlte, als sei das eine wundervolle Nachricht.»Es ist schön, wenn die Jungen sich um ihre älteren Mitmenschen kümmern«, sagte er und deutete dann auf den Kleinbus.»Sie müssen sich leider hinten reinquetschen. Donna hat ein schlimmes Bein.«
Auf dem Beifahrersitz saß angeschnallt eine runzlige, herausgeputzte Frau von mindestens achtzig Jahren und blickte konzentriert nach vorne, als würde das Auto fahren. Die Alten auf den Bänken im Fond rutschten enger zusammen. Ein Mann winkte Wilbur zu.
«Oh, ich glaube nicht, dass ich…«
«Ach was, das geht schon«, sagte Leroy und legte Wilbur die Hand auf den Arm.»Wir hatten mal ein Dutzend Leute da drin. «Er lachte.»Stimmt’s?«rief er. Aus dem Bus kam zustimmendes Gemurmel, dann, von ganz hinten, eine dünne Frauenstimme:»Es ist kalt. Warum ist die Tür offen?«
«Es geht gleich weiter, Rose«, sagte Leroy. Er schob Wilbur mit sanftem Druck in den Wagen, schloss die Schiebetür, setzte sich ans Steuer und fuhr los.
Wilbur saß in einer Duftwolke aus schwerem Parfüm, Rasierwasser, Schuhcreme und Mottenkugeln, beantwortete tausend Fragen und sah, wie sie über die Queensboro Bridge nach Manhattan fuhren. Sie hatten unterwegs noch zweimal angehalten. Einmal, um einen alten, gelähmten Mann aus seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses mit kaputtem Fahrstuhl zu tragen, und einmal, um in einem Gemeindesaal und der Gesellschaft von mindestens hundert Menschen ein Frühstück einzunehmen, das nicht zufällig mit so exotischen Speisen wie Stockfisch und Bananenbrot aufgewartet hatte, sondern weil Madame Robespierre eine der Köchinnen war. Mit ihrer Anwesenheit war Wilbur auch die Verbindung zwischen Elwood und der Sonntagsgesellschaft klargeworden, in deren Mitte er inzwischen freiwillig und immer entspannter durch die Gegend fuhr. Als die Hotelköchin ihn entdeckt hatte, was nicht lange dauerte, da Wilbur der einzige Weiße in dem mit Kreppblumen geschmückten Raum war, hatte sie ihn, perlende Melodien der Überraschung und Freude singend, umarmt wie einen verschollenen Verwandten.
«Mein Sohn hat mich gestern in der Badewanne vergessen«, sagte der Mann zu Wilburs Linken und grinste, als betrachtete er den Vorfall als gelungenen Streich.»Eine ganze Stunde. «Er hatte schlohweißes Haar und trug eine Sonnenbrille. Sein Mantel war ihm zu groß, die Hände verschwanden in den dunklen Höhlen der Ärmel.