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Er berührte die Beule, die vom getrockneten Blut steifen Haare. Seine Fingerspitzen waren rot und taub. Bald würde er nass bis auf die Haut sein. Die Angler sprachen Spanisch, Wilbur mochte den Klang der kurzen Sätze, die sie wechselten. Er nahm die Pistole aus der Hosentasche und betrachtete sie. Heute war sein Geburtstag. Vielleicht hatten seine Eltern hier gestanden vor einundzwanzig Jahren. Er hörte die Stimme seiner Mutter und das Klimpern der Geldstücke in der Streichholzschachtel. Als er über das Geländer kletterte, rief sein Vater nach ihm. Die Pistole fiel ins Wasser und versank, funkelnd wie die Glücksmünzen seiner Mutter. Er starrte hinab und sah nichts. Eine Hand griff nach ihm, aber er fiel. Das Wasser war warm, es umfing ihn mit rauschender Stille.

14

Ich bin aufgetaucht. Das Wasser ist grün und kalt. Die Sonne wärmt mir den Kopf. Ich blinzle und kneife die Augen zusammen. Auf den Hügeln hinter mir grasen Schafe.

Ich bin nicht ertrunken. Statt tot auf dem dunklen Grund des Grabens im Zoo von New York zu liegen, bin ich in Irland. Neun Stunden Flug vom JFK-Airport nach Dublin. Danach fünf Stunden Busfahrt nach Donegal Town, über Cavan und Enniskillen. Die letzte Strecke mit dem Taxi, zwei Stunden durch Kindheitsland, vorbei an Piratensegeln, Zirkuswiesen, an Ritterburgen, Indianerpferden, an sprechenden Eseln, tanzenden Hunden und dem größten Baum der Welt.

Das Haus sehen, nach so langer Zeit, es nicht betreten, noch nicht. Die rote Tür, die Farbe ausgebleicht wie die Erinnerung. Der Hügel eingesunken, kein Berg mehr, nicht einmal für Kinder. Mit geschlossenen Augen dastehen und das Radio hören zwischen dem Rauschen des Meeres. Colms Land, das Gras zum summenden Wald geworden, verschwundene Wege.

Am zweiten Tag war ich auf dem Friedhof. Ich saß so lange da, dass ich in die Erde sehen konnte. Die Urne meiner Mutter, zwei Hände voll glitzerndem Staub, eingesunken in Orlas Bauch. Wolken flogen nur für sie. Ich versuchte zu singen, dann erzählte ich, langsam und sorgfältig, wusste keinen Anfang und kein Ende. Colms Grab ist zur Wildnis geworden, im Baum über seinem Kopf haben Vögel ein Nest gebaut, Käfer laufen auf dem Grabstein, umkreisen unermüdlich seinen Namen.

Einen ganzen Nachmittag verbrachte ich beim Notar. Eamons Geld will ich noch immer nicht. Das Gold und die Diamanten des Matrosen. Es ist zu viel geworden in all den Jahren, und es gehört mir so wenig wie es Eamon gehörte. Vielleicht hilft es den Hinterbliebenen der südafrikanischen Seeleute, die mit der Pride of Durban untergegangen sind. Harold hat mich auf die Idee gebracht und alles erledigt. Meine beiden Retter von Coney Island wollten keine Belohnung, also habe ich Harold gebeten, ihnen die beste Angelausrüstung zu besorgen, die man in New York City kaufen kann.

Zwei Wochen vor meiner Abreise aus Amerika rief Alfred an und sagte, im Hotel der alten Männer lägen drei Briefe für mich, also fuhr ich hin. Es waren standardisierte Schreiben der Verlage, denen ich meine Bruce-Willis-Biografie angeboten hatte. Drei Absagen. Ich hatte das Buch völlig vergessen und war über die Ablehnung enttäuschter, als ich der versammelten Lobbytruppe gegenüber zugeben wollte. Bis ich im Flugzeug saß, verwünschte ich diese Idioten von Verlegern und Lektoren und spielte sogar mit dem Gedanken, sie anzurufen und zu beschimpfen. Aber dann flog ich über den Atlantik und dachte, was soll’s. Irgendwo zwischen Neufundland und Dublin habe ich Bruce Willis abgehakt, wie ich Fintan Taggart oder John Townsend abgehakt habe.

Alfred will uns bald besuchen. Er hat sich in eine Frau verliebt, Olga Sweetwater, Witwe eines kürzlich verstorbenen Fleischgroßhändlers. Die beiden haben sich auf dem Friedhof kennengelernt, wo Alfred Spencers Grab und sie das ihres Mannes besuchte. Seine Betrachtungen zur Einsamkeit vor einem Grabstein hätten Olga tief berührt, erzählte Alfred am Telefon. Jedenfalls will er Olga noch in diesem Herbst heiraten und dann mit dem ganzen Tross herüberfliegen zu uns. Mazursky sei schon ganz aufgeregt und habe gefragt, ob man für den Flug sein eigenes Essen mitbringen müsse.

Hinter mir, auf einem Felsbrocken, sitzt Aislin Lynch. Sie und Mary O’Sea wohnen mit Fiona, Sean und Kieran in Orlas Haus. Sie haben alles neu gestrichen und einen großen Garten angelegt. Im Hof, wo Orla und ich früher spielten, laufen Hühner herum. Ihr Gackern vermischt sich mit dem Blöken der Schafe, das der Wind über die Hügel trägt. Alice hat vorgeschlagen, wir sollten uns welche zulegen und ihr die Wolle verkaufen. Fast zweihundert Tiere haben wir uns angeschafft. Im September kommt Alice aus New York, um sich alles anzusehen. Auf dem Land hofft sie ein paar Frauen zu finden, die stricken können. Einen Hund, der auf die Schafe aufpasst, gibt es auch. Es ist einer von McGonigles Streunern. Er lag am Straßenrand, von einem Auto angefahren. Der Tierarzt in Letterkenny hat ihn zusammengeflickt, so gut es ging. Wenn er am Abend die Herde ins Gatter treibt, humpelt er noch ein wenig, aber den Schafen ist das egal.

Auf Colms Wiese stehen drei Pferde. Von meinem Schlafzimmerfenster aus kann ich sie sehen. Wenn schönes Wetter ist, reiten Sean und Kieran auf ihnen. Sie sind Könige. Sie drehen Kreise, gemächlich und endlos wie Planeten auf ihrer Bahn. Mein Vater sieht ihnen staunend zu. Manchmal ruft er ein Wort. Polly. So heißt seine Freundin. Sie ist sieben Jahre alt, ein weißes Tinker-Pony, ein Zigeunerpferdchen mit braunen Flecken. Wenn ihr langweilig ist, stößt sie ihn mit der Nase an, aber es wird noch eine Weile dauern, bis er auf ihr reiten kann. Er ist noch nicht so weit. Er weiß nicht, wer ich bin. Trotzdem freut er sich jeden Morgen, mich zu sehen. Er kann sich selber anziehen, selber zur Toilette gehen, er nimmt Bäder und macht sich in der Küche Brote. Vor ein paar Tagen habe ich in Letterkenny ein Cello gekauft. Es ist zerkratzt, und ich musste alle Saiten auswechseln, aber es klingt wie ein Cello. Als ich meinem Vater darauf vorgespielt habe, ungelenk und kaum einen Ton sauber treffend, schien etwas in ihm, das lange in Dunkelheit lag, zu erwachen. Ich hatte Angst, er könnte vergessen zu atmen, so hingebungsvoll lauschte er meiner unsicheren Melodie. Sein Körper entspannte sich und seine Züge wurden weich, und als er weinte am Schluss, weinte ich auch. Irgendwann wird er sich an mich erinnern, und vielleicht wird er mich erkennen.

Im Herbst werde ich zu Norma Kennedy nach Dover fahren und das Cello holen, das Matthew mir hinterlassen hat. Fiona lernt, auf dem billigen aus Letterkenny zu spielen, aber auf meinem ehemaligen Übungsinstrument wird sie viel besser sein. Vielleicht spielen wir eines Tages im Duett. Fiona geht in dieselbe Schule wie ich damals, nur Schwimmunterricht hat sie keinen. Taggarts Tempel ist vor zwei Jahren eingestürzt, an einem Sonntag, dem Tag des Herrn. Die Dachkonstruktion hat dem Gewicht der Wassertanks nicht mehr standgehalten. Es hatte eine Untersuchung gegeben, Schuldige waren gesucht, gefunden und, weil der Einsturz keine Opfer gefordert hatte, freigesprochen worden. Fintan Taggart, heißt es, sei zurück nach Neuseeland gegangen. Was mich betrifft, ist das gerade weit genug weg.

Conor schickt jeden Monat einen Brief. Sie kommen aus Halifax und Shanghai und Buenos Aires. Die Frachtschiffe, auf denen er fährt, heißen Mauretania, Princess of Cairo, Excalibur, San Cristobal. Er schreibt von Stürmen und Elmsfeuern, von Walen und fliegenden Fischen, von Sternen und Tätowierungen und einem Mädchen in jedem Hafen. In einem Brief berichtet er von einem Landgang in Yokohama, wo die Leute so kleingewachsen seien, dass ich überhaupt nicht auffallen würde.

In den zwei Jahren, die wir jetzt hier sind, bin ich fast drei Zentimeter gewachsen. Nicht, dass das wichtig wäre. Es ist nur schön zu wissen, dass ich nicht schrumpfe, das hat Zeit.

Aimee treibt auf dem Rücken, die Sonne im Gesicht. Sie trägt den Anhänger mit der Sonne und dem Mond. Winston hat ihn mir in den Seesack geschmuggelt, den ich bei ihm gekauft habe. Ich paddle auf Aimee zu, auf ihr Lachen. Die Zeit dehnt sich mit dem Himmel. Möwen fliegen.