«Bis morgen dann«, sagt sie und geht. Ich höre, wie der Wagen über den Flur geschoben wird, ein leises Quietschen, ein leises Klirren. Ihre Schritte sind unhörbar, vielleicht schwebt sie.
Kurz darauf oder auch Stunden später kommt der Arzt und fragt, ob ich mich an ihn erinnere. Ich liege im Bett und erinnere mich tatsächlich an ihn, seine Stimme, den Akzent, und ich bin irgendwie erleichtert. Er scheint zufrieden, dass ich nicht mehr an die Decke starre. Das wertet er bestimmt als Fortschritt, jedenfalls macht er eifrig Notizen. Ich betrachte die Wand hinter ihm, und wenn er eine neue Frage stellt oder etwas sagt, sehe ich ihn vage an, als löse seine Stimme ein kurzes Leuchten im Dunkel meines Schädels aus, ein Glimmen in der Rumpelkammer meines Gedächtnisses.
An seinem Revers steckt ein Namensschild, M. VERMEER
steht darauf. Dass die Bezeichnung Dr. fehlt, beunruhigt mich nicht.
«Wenn Sie sich besser fühlen, können Sie auf dem Flur spazieren gehen«, sagt Vermeer.»Es gibt ein Fernsehzimmer. Und einen Pingpongtisch.«
Pingpong. Das Wort gefällt mir, sein Klang ist hübsch, das mag am Akzent des Arztes liegen. Kann man Pingpong als Sport bezeichnen? Schwimmen gilt als Sport, obwohl es eigentlich etwas ist, das man tut, um nicht unterzugehen und zu sterben.
«Sie können sich frei bewegen, außer zwischen zehn Uhr abends und sieben Uhr morgens. Da halten wir Zimmerruhe.«
An der Wand hinter dem Arzt sehe ich ein Waschbecken, einen Spiegel, vier Fliesen hoch, fünf quer.
«Eine Schwester wird Ihnen nachher Sachen zum Anziehen bringen. «Vermeer lächelt, blättert in seinem Block.
Alle zwei Wochen musste ich das Becken putzen. Barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen stand ich auf den rutschigen Fliesen und schrubbte den Glibber von den Namen. Fearghal McMahon. Roisin Duff. Maigh Faherty. Jede Fliese ein Name, hunderte Fliesen. Ich musste das verdammte Becken alleine reinigen, weil ich als einziger vom Schwimmunterricht freigestellt war. Die alte Brühe war Stunden zuvor abgelassen worden, röchelnd in den beiden vergitterten Öffnungen verschwunden, und trotzdem schrak ich bei jedem Geräusch zusammen, weil ich dachte, gleich würde ich unter sekundenschnell hereinbrechenden Wassermassen begraben. Die Fliesen verstärkten jeden Laut, und die Tatsache, dass ich, um die unterste Leitersprosse zu erreichen, auf den umgedrehten Eimer klettern musste, machte meine Lage nicht erträglicher.
«Ich lasse Ihnen Papier und Stift hier«, sagt Vermeer und legt Papier und Stift auf die Bettdecke.»Falls Sie lieber schreiben als reden.«
Einmal pfiff ich zaghaft vor mich hin, um mir Mut zu machen, da stauchte mich der Herr des Tempels zusammen, brüllte etwas von Respekt gegenüber den Toten und warf einen halbgegessenen Apfel nach mir. Ich war fast zu Tode erschrocken, als er am Rand des Beckens auftauchte, denn üblicherweise kam er erst zurück, wenn ich mit der Arbeit fertig war.
Vermeer geht. Jetzt erst rieche ich sein Aftershave, das sich mit meinen Ausdünstungen schlecht verträgt. Ich hätte ihn gerne gefragt, wo ich eigentlich bin, im Kranken- oder Irrenhaus. Ob er ein Knochenflicker sei oder ein Seelenklempner.
Diesmal klopft sie an, bevor sie das Zimmer betritt. Sie sagt nichts, lächelt nur kurz, ein Reflex, als müsse ich aufgemuntert werden, ermutigt. Auf ihren abgewinkelten Unterarmen liegt ein Bündel Kleidungsstücke, darauf ein Paar helle Segeltuchschuhe. Sie legt alles auf die Bettdecke. Ich sehe die Sachen an, als wären sie mir ein Rätsel. Sie faltet eine Hose auseinander, dann ein buntes Hemd. Unterwäsche kommt zum Vorschein, ein Paar Socken, eierschalenfarben wie die Hose. Alles ziemlich edel, würde ich sagen, aber ich sage ja nichts mehr, zumindest nicht so bald. Beige, sandfarben, fällt mir noch ein, während ich versuche, ihr nicht ins Gesicht zu sehen und auf das Heftpflaster. Khaki, Schlamm, und das Hemd grün, moosgrün.
«Ich schlage vor, du gehst erst mal unter die Dusche.«
Offenbar starre ich sie völlig entgeistert an, denn ein lauter Lacher platzt aus ihr heraus, dann fasst sie sich aber an die Wange mit dem Heftpflaster und sagt:»Aua. «Ich rutsche tiefer unter die Decke. Sie geht zum Schrank und holt einen Bademantel daraus hervor. Den legt sie auf die Bettdecke, bückt sich und stellt die Gummischlappen so, dass der Abstand zwischen ihnen stimmt und sie zur Tür zeigen.
«Rechts den Gang runter, auf der Tür ist ein Schild mit einem Duschkopfsymbol. «Damit verlässt sie das Zimmer. Ich bleibe liegen, betrachte die Sachen auf dem Bett und frage mich zum ersten Mal, ob ich beobachtet werde. Steht hinter dem Spiegel der Arzt und schreibt auf seinen Block, was ich hier mache? Habe ich diesen Status, bin ich ein Fall? Ich stehe auf und gehe zum Waschbecken. Der Spiegel sieht aus wie ein Spiegel. Aber das tun Spiegel in Verhörzimmern auch. Ich war nie in einem, aber ich kenne sie aus Filmen. Neben dem Raum, wo die Verdächtigen ausgequetscht werden, befindet sich ein zweiter, und darin stehen meistens zwei Bullen, die ihren Kollegen dabei zusehen, wie sie jemanden in die Mangel nehmen. Ihre Seite des Spiegels ist ein Fenster, sie stehen da, und meistens sagt einer der beiden so etwas wie:»Der war’s nicht, das sehe ich gleich. «Oder:»Ich geh jetzt rein und mach das Schwein fertig. «Ich starre in den Spiegel. Die Ringe unter meinen Augen sind dunkel, und ich denke, ich trage vielleicht etwas zu dick auf, bis mir einfällt, dass sie echt sind. Ich taste nach meinen Wangen, Flaum statt Bartstoppeln, taube Haut. Meine Zunge ist belegt, die Flugaufnahme eines zerklüfteten Gletschers, auf dem sich Industriedreck abgelagert hat. Ob sich der Arzt hinter dem Fenster abwendet? Ich drehe das Wasser auf, betrachte den Strahl eine Weile und drehe den Hahn wieder zu, lausche dem Geräusch in der Röhre.
Ich spiele mit dem Gedanken, den Kopf gegen den Spiegel zu rammen. Das würde meinen Aufenthalt hier nicht nur rechtfertigen, sondern noch verlängern, und außerdem ginge der Spiegel dabei vermutlich in die Brüche und gäbe sein Geheimnis preis. Ich berühre mit der Stirn das kühle Glas, stoße zu, dann etwas fester und schließlich so hart, wie es mein Mut zulässt. Ein leichter Schmerz wabert durch meinen Schädel und verliert sich in der Gruft, in der ein Teil meiner Erinnerungen beigesetzt ist. Ich stütze mich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens. Ein wenig Blut auf der Schläfe wäre schön gewesen, immerhin kann ich in den nächsten Stunden auf ein Hämatom hoffen, einen Fleck, dunkelblau, mit etwas Glück schwarz. Kann ich aufgrund der Tatsache, dass niemand ins Zimmer gestürzt ist, um mich vor mir selber zu retten, davon ausgehen, dass ich nicht beobachtet werde? Oder macht der oder die Observierende gerade Pause?
Der Spiegel ist mit vier Schrauben an der Wand befestigt. Ich entferne mit kaum vorhandenen Fingernägeln die verchromten Kappen, unter denen die Schrauben versteckt sind, drücke eine Kappe auf dem Waschbecken platt und benutze sie als Werkzeug. Ich löse eine Schraube nach der anderen, arbeite konzentriert, vergesse die Zeit dabei. Es fließt doch noch etwas Blut, als ich abrutsche und mir den Finger an einem Schraubenkopf aufreiße. Die rote Kostbarkeit schmiere ich mir auf die Stirn. Ich zähle stumm die Gegenstände auf, die sich in meinem Kulturbeutel im Badezimmer des Hotels befinden. Kamm, Nagelschere, Tube Zahnpasta, Zahnbürste, Zahnseide, Flüssigseife, Fläschchen medizinischer Alkohol, Wattestäbchen, Heftpflaster, Pinzette, Schmerztabletten, Ohrenstöpsel, Lippenpomade, Fußpuder, Mückenstichstift, Miniaturtaschenlampe, Dose Rasierschaum, Nassrasierer, zwei Glasmurmeln, blau und braun.
Die Liste bete ich elfmal herunter, dann halte ich den Spiegel mit der linken Hand fest und drehe alle vier Schrauben heraus. Als ich die letzte Schraube löse, rutscht mir der Spiegel durch die Finger und knallt mit einer Ecke auf das Waschbecken. Schon glaube ich, er sei heil geblieben, als er in drei Teile zerfällt, von denen zwei im Waschbecken zu vielen kleinen Stücken zersplittern. Beim Versuch, das bereits Geschehene zu verhindern, einem unbewussten, dummen und viel zu trägen Reflex, habe ich mir das rechte Handgelenk aufgeschnitten.