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Ich sehe noch, dass hinter dem nicht mehr vorhandenen Spiegel kein Beobachtungsfenster, sondern Wand ist, ein helles Rechteck, eingefasst von einem hellgrauen Rand. Ich betrachte das Blut, das in Stößen aus der Wunde schwappt, und setze mich auf den Boden, seltsam erschöpft von der leichten Arbeit.

Stufen aus Stein einen Berg hinauf. Näher zu Gott, seinem Gott. Er atmet schwer, ächzt, blökt. Möwen? Ja, kreischend im Blau des Himmels wie Schmierereien an einer Wand. Von da komme ich, dorthin will ich nicht zurück. Der Bus hält an, und ich steige aus. Auf dem hintersten Platz sitzt ein dicker Mann und winkt mir zu. Ich weiß, warum du hier bist. Auf meiner Wange klebt ein Heftpflaster, dabei ist es die Stirn, die schmerzt. Ich sehe über ein weites Feld, Schafherden wandern darüber hinweg, nein, es sind die Schatten der Wolken. Der Hund verfolgt einen Hasen, sein bewegtes Fell glitzert im Licht. Der Hase rennt über die Straße, erreicht die andere Seite, das rettende Ufer, ein Wunder. Der Hund darf auf Wunder nicht hoffen, die sind für heute verbraucht. Er weiß nichts von Autos, wird nie lernen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Seinen eigenen Flug erlebt er nicht mehr. Auf der Plakette um seinen Hals steht sein Name, er heißt wie ich, die Telefonnummer erinnert mich an meine Geburtsdaten. Er wird im Himmel meine Mutter treffen. Sie öffnet die Kapsel an seinem Halsband und liest meinen Satz. Es tut mir leid, dass du meinetwegen gestorben bist.

Wieder diese Stimmen. Ich kenne sie inzwischen, so fremd sind sie mir. Man berührt mich, geht mit mir um. Ich lese die Namen, das Chlor brennt in meinen Augen, ich streiche mit der Fingerkuppe über die Fliesen. Páidi O Sé. 1942–1981. Diarmuid Maher. 1961–1972. Bald wird mein Name dazukommen, das Jahr meiner Geburt und das meines Todes. In meiner Armbeuge brennt etwas. Wie viele Leute sind nötig, um mich hochzuheben? Ich hasse den Gedanken, dass dieser Scheißkerl im roten Trainingsanzug mein Leben gerettet hat. Man kann ein Leben nicht retten, das der Gerettete nicht mehr leben will. Es ist, als trage man den Müllsack zu dem zurück, der ihn auf die Straße gestellt hat, und verlange Finderlohn. Ich wollte nicht ertrinken, ich wollte nur nicht schwimmen. Ich hatte keinen Plan. Es war ein Zufall. Das Leben kehrt heim wie ein kurzzeitig verreister Gast, den man aus Pflichtgefühl aufnimmt. Ich beherberge mich, ich gewähre mir Asyl.

Die Stimmen werden leiser, sie verlassen meinen Kopf, meinen Raum. Es wird Nacht. Das Boot, in dem ich liege, hört auf zu schaukeln.

Zimmer kann man das nicht nennen. Menschenkörperaufbewahrungseinheit. Kein Stuhl, auf den man steigen, keine Kommode, von der man sich stürzen, kein Kissenbezug, mit dem man sich ersticken, kein Waschbecken, in dem man sich ertränken könnte. Das Laken ist bestimmt aus einem Material, das sich nicht in Streifen reißen lässt. Keine scharfen Kanten, nirgends. Der Schlauch, der von einem transparenten Beutel in meine Vene mündet, würde nicht einmal dem Gewicht eines Kindes standhalten. Der Beutel hängt an einem polierten armdicken Rohr, von dem keine gefährlichen Teile abgeschraubt werden können. Statt eines Fensters ist ein Lüftungsschacht in die Wand eingelassen, vergittert und unerreichbar. Der Tür fehlt die Klinke. Die Mühe, die beiden Kameras zu verbergen, hat man sich gar nicht erst gemacht.

Wenn ich vorhatte, eine Weile hierzubleiben, ist mir das vermutlich gelungen. Der verwirrte junge Mann aus dem Meer war ich vielleicht gestern, heute bin ich der Typ, der einen Spiegel abgeschraubt hat, um sich mit den Scherben die Pulsadern aufzuschlitzen. Ich bin ein seriöser Fall, ein Wiederholungstäter. Ich setze alles daran, mein Leben zu beenden. Man darf mich nicht aus den Augen lassen. Leute wechseln sich damit ab, mich zu observieren. Sie essen mitgebrachte Brote, trinken literweise Kaffee und starren auf den Monitor, trauen sich kaum zu blinzeln. Wenn sie aufs Klo müssen, drücken sie einen Knopf, dann kommt jemand und springt für sie ein. Die Kontrolleure werden kontrolliert. Sollte jemand beim Lesen erwischt werden, droht ein internes Verfahren, die Strafen sind massiv. Erwischt man jemanden beim Schlafen, ist die fristlose Kündigung unabwendbar. Ich kann Existenzen vernichten, indem ich heimlich aufhöre zu atmen.

Ich will, dass jemand kommt, und reiße den Schlauch aus meiner Armbeuge. Der Schmerz ist beträchtlich, ich schreie auf. Flüssigkeit rinnt an meinem Unterarm hinab und tropft auf das Laken. Gerade will ich mich aus dem Bett fallen lassen, als die Tür auffliegt und zwei Männer sich auf mich stürzen, um mich daran zu hindern, mir beim Sturz aus vierzig Zentimetern Höhe das Genick zu brechen. Beinahe muss ich lachen.

«Entspann dich, mein Freund«, sagt der eine Pfleger.

«Immer schön ruhig bleiben, Kumpel«, sagt der andere.

Sie sind freundlich, ihre Stimmen angenehm, das ist ihr Job. Ich bin entspannt und ruhig. Ich bin ihr Freund, wir könnten irgendwann zusammen ein Bier trinken gehen. Ich will ihnen keinen Ärger machen. Ich will ein guter Patient werden, ein harmloser Insasse.

Der Arzt eilt an mein Bett. Ich würde ihm gerne versichern, dass er meinetwegen nicht hätte rennen müssen. Dann würde ich ihm die Sache mit dem Spiegel erklären, das Missgeschick mit lebhaften Worten schildern, und wir würden alle lachen. Natürlich müsste man mich noch eine Weile hierbehalten, nur zur Sicherheit. Aber man würde mich zurückstufen und mir erlauben, Pingpong zu spielen. Ich käme wieder auf die Station, wo die spanisch sprechende Schwester ist und die dicke. Ich hätte ein Fenster, einen Stuhl und eine Kommode. Während der Arzt geübt und mit warmer Stimme auf mich einredet, sitzen die beiden Männer links und rechts von mir auf dem Bett. Sie müssen mich nicht festhalten, ich liege ganz still, beinahe entspannt.

Dann kommt sie. Das Heftpflaster ist weg. Unter einem Rechteck Haut, das eine Spur bleicher ist als der Rest, sehe ich eine gebogene Linie, einen hellroten Halbmond. Abgelenkt von den Worten des Arztes, lasse ich mir von ihr die Kanüle in die Armbeuge schieben und mit dem Tropf verbinden. Flüssigkeit gelangt in meinen Körper, aber ich habe die Kontrolle darüber, weil ich es erlaube.

Wenn das Becken sauber war, musste ich auf den Eimer steigen, damit ich die Leiter erreichte. Auf der untersten Sprosse stehend, konnte ich mit dem Stiel des Schrubbers den Eimer am Henkel hochziehen. Dann kletterte ich die fünf Sprossen hoch, warf den Schrubber und den Eimer auf den Boden neben dem Sprungbrett und ging in die kleine, muffig riechende Kammer, die als Umkleidekabine benutzt wurde und über zwei Waschbecken verfügte. Dort wusch ich mir die Hände und Füße mit Seife, bis sie rot und wund waren, krempelte die Hosenbeine runter, zog Strümpfe und Schuhe an und ging nach draußen, um an der frischen Luft auf ihn zu warten. Oft kam der Herr des Tempels erst eine Stunde nachdem ich fertig war. Er zog die Schuhe aus, stieg in das Becken hinab und ging auf die Knie, immer in der Hoffnung, eine von mir nicht gründlich genug gereinigte Stelle zu entdecken.

Alle sind gegangen. Nur sie nicht. Ich weiß, dass man mir etwas gespritzt hat. Ein Bummelzug aus Beruhigungsmitteln tuckert gemächlich durch meine Venen, Endstation Hirn, Kopfbahnhof. Ich möchte ewig so liegen. Musik dringt aus ihren Ohrstöpseln, Bass, Schlagzeug. Ich lächle, warum lächelt sie nicht? Mein Lächeln liegt unter der Haut, verborgen, deshalb. Sie gibt vor, beschäftigt zu sein, dabei schraubt sie schon ewig am Infusionsregler herum, vor und zurück. Woher hast du die halbmondförmige Narbe an der Wange? Das ist ein Brandzeichen, ich bin Mitglied einer Sekte. Ich verstümmle mich selbst, sieh her, mein Körper ist bedeckt davon. Mir wurde ein Muttermal entfernt. Ich könnte die Frage aufschreiben, aber in diesem Raum hat man mir nicht einmal Papier und Stift gelassen. Er hat sich den Bleistift ins Herz gestoßen. Als wir ihn fanden, war er tot. Kichere ich? Nein, das Geräusch kommt vom Flur. Nächster Halt, Großhirn, dieser Zug fährt weiter nach Sleepy Town, Dreamville und Nightmare City.