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Als ich aufwache, ist sie wieder da, oder noch immer. Sie hat einen Stuhl neben das Bett gestellt und liest in einem Buch. Ich betrachte sie aus den Augenwinkeln. Wenn ich den Kopf drehe, merkt sie, dass ich wach bin.

Ich liege schwer in meinem Körper. Sie wendet eine Seite im Buch. Die zusammengebundenen Haare an ihrem Hinterkopf sehen weich aus, ein Rasierpinsel. Ich bewege die Arme. Sie sieht mich an, und ein Lächeln geht in ihrem Gesicht an wie Deckenlicht in einem hellen Raum. Rasch knickt sie eine Ecke um und schließt das Buch, legt es weg und steht auf.

«Wie fühlst du dich?«fragt sie und nimmt mein Handgelenk.

Ich will ihre Hand schütteln, ein Reflex, aber sie misst nur meinen Puls. Dabei sieht sie auf ihre Uhr, ein riesiges Modell, wie es Berufstaucher und Astronauten benutzen.

«Gut«, sagt sie und legt meinen Arm auf die Decke, sanft, als sei er ein schlafendes Tier.»Du hast geträumt.«

Er fand fast immer etwas. Dann musste ich noch einmal barfuß hinab und zwei oder drei Fliesen polieren. Dermot Brennan. Mairead Doherty. Seamus Downey. Dabei stand der Mistkerl oben am Beckenrand und sah mir zu, gab Anweisungen und dirigierte mich. Während ich die nur für ihn sichtbaren Schlieren wegwischte, stellte ich mir vor, wie er den Inhalt der beiden Filterkörbe fraß, die ich bei jeder Reinigung leeren musste. Wie er mit vor Übelkeit zittrigen Fingern Brocken aus der kompakten Masse menschlicher Auswürfe und Absonderungen pulte und sich in den Mund stopfte, das Gesicht verzerrt vor Ekel und Scham. Wie er sich übergab und winselte und wie ich ihn zwang, auch sein Erbrochenes zu essen. Ich hatte eine Waffe, eine doppelläufige Schrotflinte, und wenn meine Knie schmerzten und mir die Kiefermuskeln hart wurden vor Hass, schoss ich ihm den Kopf weg. Schoss seinen verdammten Kopf in Stücke und sprenkelte damit die Wände. Saß auf dem Eimer und sah zu, wie sein Blut die Namen bedeckte, ein roter Vorhang, der sich senkt.

«Bist du hungrig?«

Bist du hungrig. Orla durfte das fragen, es ist ihre Frage, für immer. Hast du dir wehgetan. Wollen wir spazierengehen. Niemand sonst darf mir diese Fragen stellen.

«Es gibt eine leckere Karottensuppe. Mit Basilikum. Oder Dill. «Sie sieht mich an.

In meinem Hinterkopf liegt ein Gewicht, das mich daran hindert, den Kopf zu schütteln, ihn leicht hin und her zu bewegen. Sedimente. Ablagerungen aus Medikamenten.

«Du musst was essen«, sagt sie und verlässt das Zimmer.

Welche Geschichte möchtest du heute hören.

Die Hard, 1988

Das Haus und Orla, das war Wilburs Welt. Er war kein kräftiger Junge geworden, Erkältungen zwangen ihn für Tage ins Bett, und nach fünf Liegestützen, die er heimlich machte, lag er heftig atmend auf dem Teppich in seinem Zimmer. Er war schmächtig und auch am Ende eines guten Sommers bleich, er hatte nie einen Fußball getreten und war auf keinen Baum geklettert. Die Hügelzüge um das Haus waren ihm bekannt, aber nicht vertraut. Das Meer mied er, nur an Orlas Hand sah er über das Wasser und stellte sich Fische darin vor, groß wie die Schiffe, die den Horizont querten.

Orla hatte eigenhändig eine Öffnung in die Mauer geschlagen. Stand die rot gestrichene Holztür offen, sah man einen Streifen Meer. Mit einer Spitzhacke hatte sie einen Teil der Asphaltdecke aufgebrochen und die Brocken in einer Schubkarre weggebracht. Von einem Haufen neben dem Haus hatte sie gute Erde in die Schubkarre geschaufelt und dort ausgekippt, wo der Asphalt steinigem Boden gewichen war. Sie hatte Büsche gepflanzt und Blumen, Efeu, der irgendwann die nackte Mauer bedecken würde. Auf der Fläche, die der Küche am nächsten war, verlegte sie wetterfeste Holzplanken, in einer Ecke baute sie für Wilbur einen Sandkasten, in die andere stellte sie einen runden Tisch und zwei Stühle.

Eamon hatte ihr nicht geholfen, dafür Colm Finnerty, ein unverheirateter Nachbar, der für ein paar Pfund und ein Mittagessen den Holzrahmen und die Tür in die Mauer eingesetzt hatte. Er hatte ihr auch das Material besorgt, die Bretter, die Bausteine, den Zement. Geld hatte sie zum Glück genug. Nach der Heirat hatte Eamon sie damit überhäuft, obwohl sie nicht viel damit anzufangen wusste. Den größten Teil hatte sie ihrer Schwester gegeben, die es für sie anlegte. Orla musste sie nur anrufen, dann schickte Deirdre, die mit ihrem Mann und den beiden Kindern noch immer in Galway lebte, den gewünschten Betrag per Post. Schon oft hatte Orla sich vorgestellt, nach Galway zu fahren, alles Geld abzuheben und damit ein neues Leben zu beginnen, irgendwo weit weg. Dann hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie im Angesicht Gottes einen Schwur geleistet hatte, ihren Mann nicht zu verlassen, bei ihm zu bleiben in guten wie in schlechten Tagen. Dass die guten Tage so schnell vorbei sein und die schlechten den Rest ihres Lebens ausmachen würden, hatte sie damals nicht ahnen können. Jetzt war sie froh, dass sie die ganzen Jahre neben Eamon ertragen hatte. Denn jetzt hatte sie Wilbur.

Wenn das Wetter es zuließ, verbrachten Orla und Wilbur den ganzen Tag in ihrem ummauerten Paradies. Im Sommer saßen sie im Schatten unter dem Vordach, das neben dem Küchenfenster aus der Hauswand ragte und an dessen Holzbalken wilder Wein rankte. Meistens spielte im Hintergrund das Radio, und Orla summte oder sang zu den Liedern mit, was Wilbur entzückte. Jeden Tag bauten sie im Sandkasten eine neue Stadt aus Steinen und Holzstücken, Blättern und Moos und was sie sonst noch fanden. Vogelfedern schmückten Türme, Muscheln bedeckten wie Kopfsteinpflaster die Straßen, und das Haus auf dem Hügel oder am Fluss zierte immer ein Seestern, den Wilbur an Orlas Hand in der Bucht gefunden hatte. In diesem Haus wohnten Wilbur und Orla, und es war immer das schönste der ganzen Stadt.

Regnete es, verbrachten die beiden den Tag in Wilburs Zimmer. Auch hier bauten sie Städte, nur waren die Häuser jetzt aus Pappe und die Türme leere Marmeladengläser. Orla hatte Wilbur ein Spielzeugauto geschenkt, ein rotes ohne Dach, aber Wilbur zeigte kein Interesse daran und parkte es am ersten Tag unter dem Bett, wo es fortan blieb. Was der Junge jedoch innig liebte, waren die Indianerfiguren aus Plastik, die Orla von einer Nachbarin, deren Sohn nach Australien ausgewandert war, geschenkt bekommen hatte. Die Frau hatte ihr einziges Kind von diesem Schritt abzuhalten versucht, und als es ihr nicht gelang, verschenkte sie aus Schmerz und Wut alles, was an ihn erinnerte. Fünf Figuren waren es, zwei davon saßen auf Pferden, einem schwarzen und einem weißen. Ihr Stamm bewohnte Häuser aus angemalter Pappe, hielt auf mit buntem Papier beklebten Türmen Ausschau nach Riesenbären in Strickjacken und teilte sein Land mit Zebras, Giraffen und Elefanten.

Eines der kleinen farbigen Holztiere gab es bei jedem Einkauf in McSweeney’s Gemischtwarenladen in Letterkenny, wohin Orla den Jungen zweimal im Monat mitnahm. Dort war es auch, wo Orla den Entschluss fasste, ein Auto zu kaufen. Der Zettel hing am schwarzen Brett beim Ausgang und fiel zwischen den achtlos hingekritzelten Inseraten auf, weil der Text fehlerfrei und in akkurater Handschrift verfasst war.»Günstig zu verkaufen, Nissan Sunny, 1979, himmelblau, tadelloser Zustand. «Die Worte Sunny und himmelblau genügten, um Orla davon zu überzeugen, dass es Zeit war, einen lange gehegten Traum zu verwirklichen.

Zwei Wochen später war Orla die neue Besitzerin des Autos, dessen Schlüssel ein pensionierter Lehrer ihr unter Tränen überreicht hatte. Weitere siebzehn Wochen danach hatte Orla den Führerschein in der Tasche. Die ersten Fahrten unternahm sie alleine, bis sie sich hinter dem Steuer sicher genug fühlte, um ihren Enkel mitzunehmen. Der beim Anblick des Wagens noch skeptische Wilbur saß bei seiner Jungfernfahrt angegurtet auf dem Beifahrersitz und staunte schon nach wenigen Metern über die neuen Landschaften, die ihm geboten wurden. Den Weg mit dem Bus nach Letterkenny kannte er, aber jetzt fuhren sie nach Osten und Südwesten, wie es ihnen gerade gefiel. Sogar ein eingebautes Radio gab es, und bald redeten die Leute in der Gegend von dem himmelblauen Gefährt, aus dem so laut Radiomusik und die Stimme der Lenkerin dröhnten, dass die Kühe auf den Weiden verschreckt die Köpfe hoben. Obwohl Wilbur die Musik nie laut genug sein konnte, brachte Orla ihn nicht dazu, mitzusingen. Wilbur wippte wild mit den Füßen und stieß ab und zu ein kurzes Johlen aus, aber in den Gesang einstimmen wollte er nicht.