Sie fuhren nach Glinsk, wo es einen Mann gab, der mit seinen Eseln sprach, nach Carrowkeel, das bekannt war für seine Bäckerei, nach Lehardan, wo es in einem Kirmeszelt ein Puppentheater gab, nach Gortaway, um den Segelbooten im River Swilly zuzusehen, und in die zahllosen anderen Ortschaften der Region, die ähnlich Spektakuläres zu bieten hatten. Einmal fuhren sie früh am Morgen los und waren am Nachmittag in Sligo, wo sie Orlas inzwischen geschiedene Schwester Deirdre trafen. Die Frauen weinten vor Freude, während Wilbur mit so viel Schokolade und Eis gefüttert wurde, dass er sich auf dem Heimweg übergab.
Nach den Ausflügen parkte Orla den Wagen in der leerstehenden Scheune von Colm. Eamon wusste weder vom Auto noch von Orlas Führerschein. Manchmal, wenn er in der Küche seinen Tee trank, war sie nahe daran gewesen, ihm alles zu erzählen. Doch dann entschied sie sich immer dagegen und schwieg, hörte seinem Schlürfen zu und hoffte, er würde bald wieder gehen.
Während Wilbur angefangen hatte zu reden, war ihr Mann noch schweigsamer geworden. Er nahm seine Frau und den Jungen kaum noch wahr, und wenn er es tat, starrte er die beiden an, als suche er in seinem verwirrten Kopf nach Gründen für ihr Dasein, Hinweisen auf ihre Herkunft, ihre Namen. Nicht einmal mehr die Zeitung las er, weder ein- noch zweimal am Tag. Trotzdem brachte der Postbote sie jeden Tag, und Orla suchte darin nach Meldungen, die sie Wilbur später vorlesen würde. Zum Beispiel die Geschichte vom Mastbullen, der in Leeds dem Schlachter davongerannt war, halb Yorkshire durchquerte und jetzt im Garten einer Familie lebte, die sich seiner erbarmt hatte. Vom alten Mann in Italien, der vergaß, wo er die Keksdose mit dem Ersparten vergraben hatte, wochenlang den Garten umpflügte und einen Goldschatz aus der Römerzeit fand. Oder von dem kleinen Jungen in Kilkenny, der sich, müde vom Spielen, auf die Rückbank eines Autowracks gelegt hatte und nur gerettet wurde, weil ein Blitzschlag die Schrottpresse lahmlegte.
Als Wilbur fünf Jahre alt wurde, zog Orla endgültig in sein Zimmer. Jede Nacht faltete sie die Wolldecke einmal zusammen und legte sich neben Wilburs Bett auf den Teppich. Weil sie am Morgen sowieso als erste wach war und in der Küche das Frühstück vorbereitete, merkte Eamon nichts von ihrer allnächtlichen Abwesenheit. Orla bezweifelte, dass er sie in seinen von Träumen beherrschten Nächten überhaupt noch wahrgenommen hatte, und nach einer Weile wusste sie mit Sicherheit, dass er sie nicht vermisste.
Nicht einmal Wilbur war bewusst, dass seine Großmutter seit zwei Jahren neben ihm schlief. Dass sie immer gleich an seinem Bett stand und ihm über den Kopf strich, wenn er wegen eines bösen Traums aufwachte, nahm er als selbstverständlich hin. Orla war seine Beschützerin, sein Engel, sie war das weiße Pferd, auf dessen Rücken er saß und keine Angst hatte. Sie war der vor Liebe glühende Kern seiner Welt, und er wollte niemanden sonst in dieser Welt haben. Allen voran nicht seinen Großvater, der einen Schatten warf auf die Sandkastenstädte wie der Riese aus dem Märchen, das Orla ihm vorgelesen hatte. Wenn der Mann nur weg wäre, dachte Wilbur vor dem Einschlafen, wenn er nur aus dem Haus gehen und nicht mehr zurückkommen würde.
Aus dem Haufen war ein Hügel, aus dem Hügel ein Berg geworden. Sein Erbauer war gleichzeitig geschrumpft, ging gebückt die Stufen hinauf und trug Steine wie Opfergaben. Sogar auf der Spitze wirkte er klein, eine Termite auf ihrem Bau. Mit schrundigen Händen und die Finger fast steif von der Gicht, ruhte er sich manchmal auf den Resten der Kirche aus, trank Wasser aus dem Krug, in dem sommers tote Insekten schaukelten, und aß den Kanten Brot, der in ein Tuch gewickelt war. Er sah die runde Steinpyramide nicht als sein Werk, sich selber jedoch als Werkzeug. Er kaute Brot mit den paar Zähnen, die ihm geblieben waren, und vermied es, auf das Meer hinauszusehen.
Stand die Sonne über ihm und blieb er zu lange sitzen, erwärmte sich sein Kopf, und etwas darin schien sich mit Lichtpartikeln anzureichern. Bilder leuchteten schwach und verschwommen auf, zitterten wie die Säure in einer Batterie, die keine Kraft mehr hat, einen ganzen Mechanismus in Bewegung zu setzen. Zu matt war das Glimmen, um ihm die Gesichter zu zeigen, die er einmal gekannt hatte. Staub auf dem Flügel einer Motte waren sie, aufgeladen mit Mondlicht, rasch verblassend.
Wolken strichen über Eamon hinweg, Regen und Wind. Die Tage vergingen, die Jahre, alle wirklichen und erdachten Leben. Er hockte auf kaltem Stein und atmete, ein verbrauchter Körper, unnütz zur Aufbewahrung von Erinnerung. Nie jung gewesen, nie ein Kind. Nie der Mann, der am irischen Nationalfeiertag beschließt, seinem erfundenen Leben ein Ende zu setzen, indem er die Wahrheit erzählt. Nie der junge Kerl, der vor versammelter Menge eine Beichte ablegen, sich bei seinen toten Eltern entschuldigen will. Der in der Rede, die er im Grattan Park in Galway halten soll, einen Lügner aus sich machen will, einen Betrüger und Dieb, vielleicht einen Mörder. Der alles vergisst, als er sie sieht. Seine Vorsätze über den Haufen wirft, seine Zuhörer begeistert mit Anekdoten von Bären und Banditen und dabei nur sie ansieht. Für sie alle Lügen wiederholt, alle Geschichten bestätigt und alle Legenden glänzen lässt wie das Gold, das er ihr schenken will.
Dieser Mann war er nicht. Vielleicht kannte er ihn, früher einmal, hatte seine Geschichte in einer Zeitung gelesen, denselben Artikel zweimal am selben Tag. Zweimal die Geschichte, deren Held ein junger Ire war, der in Amerika zu einem neuen Leben kam. Nein, das war er nicht. Wer sollte ihm das Lesen beigebracht haben? Sein Vater? Nicht einmal an den Geruch von Schafen erinnerte er sich. Er saß auf den letzten in die Erde sinkenden Steinen, die den Umriss eines Schiffs in die Wiese zeichneten, und kaute Brot, das jeden Tag in der Küche lag. Wer es dort für ihn hinlegte, wusste er nicht. Manchmal sah er eine Frau, die ihm aus dem Weg ging. Es kam vor, dass ihr Anblick eine Helligkeit in ihm entfachte, ein Funkeln nur, zu kurz, um eine wirkliche Empfindung auszulösen, aber lange genug, um eine Ahnung zu wecken, die jedoch bald abklang.
Nie würde er erfahren, wer die Frau war, die das Brot besorgte und die Äpfel, die seine Kleidung wusch und wusste, dass er Rindfleisch und Kartoffeln mochte und Kuchen. Und nie mehr würde er sich daran erinnern, dass er der Mann war zu dieser Frau. Dass es Zeiten gegeben hatte, da sie neben ihm lag. Dass ihr das Haar gehörte, das er auf dem Laken gefunden und das er um den Finger gewickelt hatte an der Stelle, an der früher ein goldener Ring gewesen war.
Nichts war ihm geblieben, wenn er unter dem weiten Himmel saß, kauend wie ein Schaf, und die Sonne ertrug und den Regen und die Kälte. Verschwunden waren die Bilder in seinem Kopf, die ihn mit den beiden Schwestern zeigten, Hand in Hand durch die Nacht treibend und etwas mit aller Kraft festhaltend, das ein Versprechen auf Glück schien, auf Trost und auf Vergebung.
Orla wollte Wilbur zu Hause unterrichten und stritt mit den Behörden fast ein Jahr lang um dieses Recht. Sie hatte es geschafft, ihn vor dem Vorschulunterricht und der ersten Klasse zu bewahren, aber obwohl der Junge fließend lesen und schreiben und einigermaßen rechnen konnte und wusste, was ein Buckelwal war und wie ein Vulkan entstand, verlor sie den Streit in letzter Instanz. Einen Tag nach der amtlichen Verfügung steckte man den acht Jahre alten Wilbur, der mühelos als Sechsjähriger durchging, in die Uniform und zweite Klasse einer Schule, die in einem schmucklosen Gebäude außerhalb einer Ortschaft namens Portsalon untergebracht war.