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Es gab zwar einen Bus, der die Kinder auf den entlegenen Höfen aufsammelte, aber Orla fuhr Wilbur selber zur Schule und holte ihn dort wieder ab. Manchmal, nachdem sie im Auto gewartet hatte, bis Wilbur im Schulhaus verschwunden war, fuhr Orla an die nahe Küste und blieb dort, bis der Unterricht zu Ende war. Ohne ihren Enkel fühlte sie sich im Haus einsam und unnütz. Die ersten Tage allein hatte sie damit verbracht, das Zimmer aufzuräumen, die Küche gründlich zu putzen und für Eamon Essen vorzukochen, das sie in Plastikschüsseln abfüllte und einfror. Dann wusch sie sämtliche Vorhänge, jätete verbissen Unkraut und strich die Stühle, die das ganze Jahr draußen standen, neu. Als sie sich nach einer Woche dabei ertappt hatte, wie sie vor dem Sandkasten kniete und Muscheln nach ihrer Größe sortierte, war sie in den Wagen gestiegen und losgefahren.

Die Küste in der Nähe des Schulhauses unterschied sich nicht von der bei Fanad Head, aber die Tatsache, dass es nicht die vor ihrem Haus war, wirkte auf Orla beruhigend. Oft saß sie stundenlang im Auto, suchte einen Sender und blickte auf das Meer, das dasselbe war wie in ihrer Bucht und doch ein anderes. Seine Farbe war heller, und die Wellen erschienen ihr weicher und weniger bedrohlich. Sogar die Möwen hier kamen ihr freundlicher vor, sie flogen höher und ihre Rufe klangen lockend statt spöttisch. Wenn das Wetter es erlaubte, ging sie ein wenig spazieren und ließ sich den Wind über das Gesicht wehen. Beim Gehen überlegte sie sich, worüber sie mit Wilbur reden, was sie in den nächsten Tagen für ihn kochen und welche Geschichten aus der Zeitung sie ihm während des gemeinsamen Abendessens erzählen würde.

Im Auto lernte sie die Texte von Liedern auswendig, die im Radio gespielt wurden, strickte Pullover und füllte Zettel der öffentlichen Bibliothek von Letterkenny aus, mit denen sie Bücher für Wilbur reservierte. All das tat sie, um Zeit totzuschlagen, aber ihr wirkliches Leben fing immer erst dann wieder an, wenn sie mit Wilbur zusammen war.

Die ersten Wochen in der Schule waren für Wilbur die Hölle, und die Zeit danach wurde nicht viel besser. Er war der schmächtigste und kleinste unter den Jungen, und die Tatsache, dass ein Artikel über den Streit, den seine Großmutter geführt hatte, im Donegal Democrat erschienen war, machte ihn zur lokalen Berühmtheit. Die Lehrer, deren pädagogischen Fähigkeiten Orla McDermott infrage stellte, empfingen ihn mit kaum verhohlener Missbilligung, und für seine Mitschüler bot er die ideale Zielscheibe für Spott und Verachtung. Wilburs Klassenlehrerin, Miss Ferguson, eine Witwe in den späten Fünfzigern, behandelte ihn zwar wie ihre übrigen Schüler, aber das änderte nichts daran, dass er todunglücklich war. Er vermisste Orla, er wollte ihre Stimme hören und sie in jeder Sekunde, in der er wach war, bei sich haben. Zwar brachte er den Lehrbüchern und der Landkarte ein gewisses Interesse entgegen, aber im Klassenraum fühlte er sich eingesperrt, er hasste den Ton der Pausenglocke und fürchtete sich vor seinen Mitschülern.

Oft saß Wilbur auf seiner Bank, hielt in der Hosentasche den Indianer auf dem Pferd fest und dachte an Orla und daran, dass er alles dafür geben würde, bei ihr zu sein. Ertappte ihn Miss Ferguson bei seinen Tagträumereien, musste er aufstehen und unter den Blicken der übrigen Kinder wiederholen, was die Lehrerin eben gesagt hatte. Weil er das nicht konnte, musste er für den Rest des Unterrichts neben ihrem Pult stehen, ohne sich zu rühren, und regelmäßig ließ sie ihn eine Stunde nachsitzen und Sätze in ein liniertes Heft schreiben.

«Ich soll der Lehrerin zuhören.«»Ich soll dem Unterricht folgen. «Jede Seite hatte dreiundzwanzig Zeilen, und für jede Zeile ließ Wilbur sich genau so viel Zeit, dass die Strafaufgabe die Stunde füllte. Das erste Mal hatte er den Fehler begangen, nach einer halben Stunde fertig zu sein und aus dem Fenster zu sehen, worauf Miss Ferguson ihn eine weitere Seite schreiben ließ und eigens für ihren unaufmerksamen Wunderknaben anspruchsvollere Sätze ersann.»Wenn Gott gewollt hätte, dass ich den Tag mit unnützen Gedanken verschwende, hätte er mich zum sorglosen Äffchen im Urwald gemacht.«»Ich bin ein leeres Gefäß, und meine Unaufmerksamkeit ist der Riss, durch den das Wissen rinnt.«»Die Schule ist ein Ort des Fleißes und Lernens, nicht des Müßiggangs und Träumens.«

Immerhin war Wilbur nicht der einzige, der nachsitzen musste. Auch andere Kinder schenkten dem Unterricht nicht die Beachtung, die Miss Ferguson forderte. Zudem verhängte sie Strafen für alles, was in irgendeiner Weise gegen ihre selbsterlassenen und ständig erweiterten Regeln verstieß. Ihr langer Katalog der Vergehen reichte von kleinen Sünden wie schmutzige Fingernägel, Nasebohren oder Bleistiftkauen über schwerer wiegende Verstöße wie Abschreiben, Ritzen von Initialen und Zeichen in die Pultdeckel oder Mitbringen von Spielzeug und Comic-Heften bis zu Kapitalverbrechen, zu denen unentschuldigtes Zuspätkommen, dreckige Schuhe im Klassenraum und Prügeleien zählten und die, je nach Schwere, mit einmaligen Ermahnungen, Strafaufgaben und Nachsitzen geahndet wurden.

Weil Wilbur immer mit sauberen Schuhen und Fingernägeln zur Schule ging, alleine in der vordersten Bank saß und somit niemanden zum unerlaubten Reden hatte, den Indianer auf dem Pferd nie aus der Hosentasche nahm und auch sonst nichts tat, was Miss Ferguson hätte missfallen können, blieb es bei den zwei bis drei Stunden Nachsitzen pro Woche wegen Tagträumens.»Es ist nicht lehrreicher, vorüberflatternde Vögel zu beobachten, als den Ausführungen der Lehrerin zu folgen. «DOCH! hätte Wilbur am liebsten hinter jede Zeile geschrieben. Zu Hause lag Die Schatzinsel auf seinem Kopfkissen, und im Regal warteten Reise zum Mittelpunkt der Erde und In achtzig Tagen um die Welt auf ihn, und sie lasen seit Monaten in einem Buch, dessen Sätze so einfältig und langweilig waren wie die Illustrationen dazu.»John kauft einen Apfel im Laden.«»Mister Smith trägt einen neuen braunen Hut. «Natürlich waren die Vögel vor dem Fenster interessanter! Jedes ihrer Flugmanöver war aufregender als alle dummen Sätze des Buches zusammen. Jeder Flügelschlag, jedes Glitzern der schwarzen Federn im Licht war tausendmal spannender als die Art, wie Miss Ferguson ihr Wissen weitergab.»Mit meiner Weigerung, dem Unterricht zu folgen, beschäme ich nicht nur mich und die Schule, sondern auch meinen Schöpfer. «Selbst nach der hundertsten Niederschrift gelang es Wilbur nicht, die tiefere Bedeutung des Satzes zu begreifen.

Conor Lynch machte sich gar nicht erst die Mühe, den Sinn der Wörter zu ergründen, die er ungelenk und mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen zu Papier brachte. Es war eine Bestrafung, und er nahm sie hin wie schlechtes Wetter oder Zahnschmerzen. Im Gegensatz zu Wilbur bereitete es ihm große Mühe, die Seite innerhalb einer Stunde zu füllen, und das, obwohl er es noch immer mit den einfachen Sätzen zu tun hatte. Je mehr sich der Minutenzeiger der Zwölf näherte, umso schneller versuchte er zu schreiben und umso unleserlicher wurde seine Schrift, die ihm bereits unter größter Anstrengung nur ein Ungenügend einbrachte. Dann begann er zu ächzen und mit den Füßen zu scharren, und Wilbur konnte seinen Schweiß riechen.

Während Wilbur ruhig und flüssig Satz um Satz aufreihte, genoss er die Pein, die Conor Lynch erduldete. Jeder Seufzer erfüllte ihn mit Genugtuung, jedes kaum hörbare Wimmern entschädigte ihn für die Schläge, die er von dem Rüpel oder einem seiner Kumpane eingesteckt hatte. Heulte Conor leise auf, wenn ein Tintenklecks eine ganze Zeile ruinierte, hüpfte Wilbur das Herz vor Freude. Auch bei Conor hatte Wilbur zu Beginn des Schuljahres einen Fehler begangen, indem er ihn während des Nachsitzens schadenfroh angrinste. Später auf dem Flur und von Miss Ferguson unbemerkt, hatte Conor sich mit einer Kopfnuss gerächt, die Wilburs Schädel noch Stunden später summen ließ. Seither verkniff er sich jegliche Reaktion auf Conors Leiden und beschränkte sich darauf, seine kleinen Triumphe heimlich zu genießen.