Manchmal, wenn er seine Strafe absaß und Miss Ferguson für kurze Zeit den Raum verließ oder an ihrem Pult in ein Buch versunken war, sah Wilbur aus dem Fenster. Dabei achtete er darauf, den Kopf nur ein wenig zu drehen, kaum sichtbar, und stattdessen den Blick so weit wie möglich zur Seite zu lenken. Wenn er dann Orla entdeckte, die weit entfernt auf dem leeren Feld neben der Schule stand, durchströmte ihn das warme, wohlige Gefühl, das ihm während der endlos langen Stunden in diesem Gebäude so sehr fehlte. Orla schien zu spüren, wenn Wilbur sie ansah, und hob eine Hand, um ihm zuzuwinken. Wenn es besonders kalt war oder sie gute Laune hatte, hüpfte sie auf und ab und fuchtelte dabei mit den Armen, und ein der übrigen Welt verborgenes Lächeln legte sich für den Rest der Stunde auf Wilburs Gesicht.
Was für die anderen Kinder das Beste an der Schule war, fürchtete Wilbur am meisten. In den Pausen verkroch er sich in eine Ecke des von Steinmauern und Maschendrahtzaun eingefassten Hofes und hoffte, für einmal verschont zu bleiben. Ein Gestrandeter am Ufer eines Meeres aus Lärm, duckte er sich an die Mauer, machte sich kleiner, als er war, hob schützend die Hände vor das Gesicht, wenn die Wogen der Balgenden und Kämpfenden zu nahe an ihn heranbrandeten, und zählte die Sekunden bis zum erlösenden Schrillen der Glocke.
Als Conor, flankiert von seinen Freunden Sean Finn, Niall McCoy und Liam O’Donnell vor ihn trat, schloss Wilbur die Augen und flehte stumm darum, unsichtbar zu werden, im Boden zu verschwinden oder in einer Mauerritze.
«He, Hosenscheißer!«Conor gab sich Mühe, tief und bedrohlich zu klingen, obwohl auch er noch eine ganze Weile auf den Stimmbruch warten musste. Sein Gefolge kicherte, ballte nervös die Fäuste in den Taschen.»Warum biste so weiß?«
«Bleicher als ’n Nonnenarsch«, sagte Niall McCoy, der vorlauteste unter dem Trio, das an Conor klebte wie Putzerfische an einem Hai.
Conor trat einen Schritt nach vorne, um klarzumachen, dass es sein Vorrecht war, dem dürren Knilch eine Lektion zu erteilen. Dem Streber, der im Unterricht alles wusste und den Rest der Klasse dumm aussehen ließ, der mühelos in Büchern las und auf der Karte jedes noch so kleine Land am Ende der Welt fand. Dem Fremden, der seine Mutter auf dem Gewissen hatte. Dem Abkömmling eines Selbstmörders.
«Was haste da eigentlich inner Tasche?«Conor zeigte mit der Schuhspitze auf Wilburs Hand, die in der Tasche seiner Hose steckte.
Wilbur antwortete nicht, sah Conor nicht an. Er blickte durch den Spalt in der Mauer aus Beinen, die vor ihm einen Halbkreis bildete, wartete, zählte lautlos Sekunden. Vielleicht kam eine Lehrerin vorbei und wollte wissen, was los sei. Oder einer der Lehrer sah aus dem Fenster der kleinen Teestube, deutete die Ansammlung richtig und schritt ein, bevor etwas passierte. Wilbur wünschte sich Regen. Ein Wolkenbruch würde die Kinder ins Gebäude scheuchen. Dort wäre er einigermaßen sicher, solange er auf dem Fenstersims saß, gut sichtbar für die Lehrkräfte, die Aufsichtsdienst hatten.
Zwei Hände packten seinen Arm, und er öffnete die Augen. Conor riss seine Hand aus der Hosentasche, die den Indianer und das Pferd umklammerte. Wilbur und Orla. Warm von seinem Körper, ans Tageslicht geholt nur in der Sicherheit des Autos, des Zimmers, des Gartens. Niemand außer ihm und Orla durfte die Figuren berühren.
«Sieh mal an. «Conor hatte Wilburs Hand mit der Leichtigkeit geöffnet, mit der er einen Apfel in zwei Hälften brach. Jetzt hielt er Wilburs Unterarm mit der einen Hand fest, während die andere den reitenden Indianer herumzeigte.
«Das Bleichgesicht hat eine Rothaut zum Freund. «Niall lachte. Als Conor grunzte, lachten auch Sean und Liam.
«Der Bettnässer spielt also nicht nur mit Puppen«, versuchte es Liam und war erleichtert, als die Freunde glucksten.
Wilbur hing an Conors Hand wie ein zerschlagener Boxer, den der Ringrichter zum Sieger erklärt. Er kniete mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, der kalt war und dunkel von einem Regen, der nicht auf ihn gewartet hatte. Sein Schultergelenk tat weh, Conor verdrehte es.
«Soviel ich weiß, ist Spielzeug hier verboten«, sagte Conor und erntete Zustimmung. Er grinste wie ein Anwalt im Fernsehen, der die Geschworenen im Griff, den Prozess so gut wie gewonnen hat. Er wandte sich an Wilbur, studierte dessen vor Schmerz und Angst verzogenes Gesicht.»Du weißt doch sonst alles, Klugscheißer.«
Wilbur atmete ein und aus. In der Hand hielt er eine Fackel, deren Flammen seine Haut versengten. Er hatte sich verzählt und wollte von vorne beginnen, aber er vergaß, was nach der Acht kam. So alt war er jetzt, acht, und sah aus wie fünf, ein bleicher Knirps mit hellbraunen Haaren, über das die Verkäuferinnen bei McSweeney’s strichen, ein Winzling, dem wildfremde Frauen das hübsche Gesicht tätschelten. Ein Schwächling, der nachts zu einem Gott betete, dessen Existenz er anzweifelte. Ein Baby, das an der Hand der Großmutter eine Welt erkundete, die ihm auf Buchseiten entgegenleuchtete und die kleiner war als dieser Schulhof. Ein Angsthase, der an manchen Tagen tot umfallen wollte, statt zur Schule zu gehen. Ein Feigling wie sein Vater.
Er hörte das Schrillen der Pausenglocke und wusste nicht, dass es das Geräusch von Hass und Wut war, das in ihm aufstieg wie der Wirbel eines Tornados, dessen Bilder er im National Geographic gesehen hatte. Raunen hörte er, zu leise, um den Argwohn der Lehrer zu erwecken. Und dann, in einer Sekunde der Stille, im reglosen Auge des Sturms, hörte er seine eigene Stimme.
«Gib sie zurück.«
Gleich darauf spürte er einen heftigen Schmerz, als reiße etwas in seiner Schulter, die Schnur, mit der der Hund an der Scheune angebunden ist. Er spürte die Tränen, die aus seinen Augen strömten, vielleicht schon lange über die Wangen liefen, und er spürte, wie seine geballten Fäuste auf etwas Hartes trafen und wie der Schmerz zur Kraft wurde, zum blinden Toben gegen einen Schädel, an dem weiche Teile unter seinen brennenden Knöcheln nachgaben, fühlte, wie er nach vorne stürzte und statt auf dem Boden auf etwas Nachgiebigem landete, etwas, von dem er büschelweise feines Gras reißen konnte und das brüllte wie ein Tier im blechernen Dunkel eines Transporters, unterwegs zum Schlachthof. Blut und Rotz und Spucke benetzten seine Hände, sein Atem war heiß. Er röchelte, zitterte, schlug beide Fäuste ein letztes Mal in das Weiche, unter dem das Harte lag und glühende Nadeln in seine Finger trieb, dann seufzte er matt und unerlöst, wollte zur Seite kippen und wurde hochgehoben, schwebte davon, ein Engel der Rache, ein müde keuchendes Engelchen, in dem der Zorn erkaltete, an einem Seil über der Bühne schwebend, der Arena, umspült von Lärm und geweiht vom Wasser eines verspäteten Regens.
Orla rieb die blau verfärbte und geschwollene Schulter mit Arnikasalbe ein und wickelte ein Tuch darum. Dabei summte sie für Wilbur ein Lied, Mistletoe and Wine von Cliff Richard, das in England die Hitparade anführte. Obwohl sie den Text auswendig konnte, ließ sie ihn weg, denn sie fand, ihr Summen sei beruhigender.
Wilburs Schulter war von einem Arzt in Letterkenny eingerenkt worden, demselben Arzt, der Conor die gebrochene Nase gerichtet, ein geschwollenes Auge behandelt und die geplatzte Unterlippe genäht hatte. Der Mann, ein ehemaliger Militärarzt, der schon einiges gesehen hatte, wollte von dem Lehrer immer wieder wissen, ob wirklich der Kleine für den üblen Zustand des Großen verantwortlich sei, und als der Lehrer jedes Mal mit ja antwortete, kicherte der Arzt in sich hinein und murmelte etwas von Boxtalent und wildem Stier.
Orla, die nach Unterrichtsschluss vor der Schule vergeblich auf Wilbur gewartet hatte und von einem Lehrer über den Zwischenfall informiert worden war, fand die Sache ebenso wenig witzig wie Conors Mutter, die weinend im Behandlungszimmer gesessen und versucht hatte, ihrem Sohn die Hand zu halten. Der Lehrer hatte Orla mit Konsequenzen gedroht, und Orla hatte geantwortet, von ihr aus könne man Wilbur jederzeit der Schule verweisen, dann unterrichte sie ihn eben wieder zu Hause.