Drei Tage später, als die Theatertruppe weiterzog, ging Lorraine mit. Den Hund, der immer Mittelpunkt ihres privaten Lebens gewesen war, gab sie ihrem Bruder, ihren Hausrat schenkte sie einem wohltätigen Verein. Im Krankenhaus sagte sie allen Adieu und machte einen letzten Besuch auf der Säuglingsstation.
Wilburs von den Glaswänden gedämpftes Schreien hörte sie schon im Flur und war zuerst erstaunt und dann besorgt, als es verstummte, sobald sie die Tür öffnete. Der schrumpelige Winzling mit der durchsichtigen Haut lag in seinem Brutkasten wie ein seltsames Tierchen, das man zu Forschungszwecken an Schläuche und Kabel angeschlossen hatte. Seine Augen waren leicht geöffnet, und Falten standen auf seiner Stirn, als hätte er Kopfschmerzen oder würde nachdenken. Er bewegte sich nicht, nur sein runder, von einem Geflecht aus blauen Arterien durchwachsener Bauch hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemzüge. Lorraine trat an den Kasten heran, löste die Verriegelung an der Klappe und schob ihre rechte Hand durch die Öffnung. Wilburs Kopf war warm und trocken, Flaum aus farblosem Haar stand in alle Richtungen ab. Lorraine strich vorsichtig über den durch die Geburt leicht deformierten Schädel, ständig damit rechnend, dass Wilbur wieder zu schreien anfing. Aber er schrie nicht. Er lag da, den Blick abgewandt, und schien den leisen Worten zu lauschen, die Lorraine an ihn richtete, während sie mit den Fingern sanft über den Wulst fuhr, an dem die beiden Schädelhälften zusammenwuchsen.
Als Wilbur nach Lorraines kleinem Finger griff und ihn mit erstaunlicher Kraft festhielt, traten ihr Tränen in die Augen. Mehrere Minuten blieb sie so stehen, weinte leise vor sich hin und fuhr mit dem Daumen über seine winzigen Knöchel. Sie musste die Fingerchen, die sie so energisch umklammerten, mit der freien Hand lösen und eilte hinaus, ohne sich noch einmal nach dem Kind umzudrehen.
Weil nach Lorraines Weggang keine der Schwestern den Brauch mit den bestickten Kissen weiterführen wollte, blieb Wilbur für unabsehbare Zeit der letzte Säugling, dem diese Ehre zuteil geworden war. Dass auf seinem Bezug nur WILB stand, schien niemanden zu stören. Jeder im Saint Francis nannte ihn so. Wilb. Sogar der Name war zu kurz geraten.
Eine der Schwestern, Edna Porter, machte es sich zum Ziel, dass Wilbur wuchs. Sie badete ihn, puderte seine gerötete Haut, rieb seinen wunden, verschrumpelten Hintern mit Salbe ein und glättete seine störrischen Haare, indem sie etwas Spucke benutzte. Mehrmals täglich gab sie ihm die Flasche, und während Wilburs Kopf an ihrer schweren, unter dem weißen Kittel sich abzeichnenden Brust lag, summte sie Breakfast In America von Supertramp und schaukelte langsam vor und zurück.
Fütterte ihn Edna, starrte Wilbur an die Decke. Nur manchmal, wenn Edna selbstvergessen trällernd ins Leere blickte, sah er sie für Sekunden mit Augen an, in denen so etwas wie Neugier stand. Die klassische Schönheit von Lorraines Gesicht hatte er längst vergessen, jetzt überwältigten ihn Ednas üppige Sinnlichkeit, ihr wogender Körper, ihre großen fleischigen Hände. Sie roch süßlich, und ihre Stimme klang tiefer als die der anderen Schwestern. An dem Tag, an dem Lorraine gegangen war, hatte er aufgehört zu schreien, als habe er begriffen, dass sich dadurch nichts ändern könne. Und seit jenem Tag waren Geräusche, die er zuvor übertönt hatte, zu einem Teil seines Lebens geworden. Die Stimmen der Ärzte und Schwestern, die Laute, die aus den blinkenden Maschinen kamen, Schritte von Gummisohlen auf Linoleum, das entfernte Quietschen der Räder des Gerätewagens, den die Putzfrau durch den Flur schob, dumpf durch die Wände dringendes Telefonklingeln. Alles war neu, verwirrend und beängstigend.
Schön und beruhigend war nur Ednas Stimme. Sang sie, fühlte sich Wilburs Bauch warm an, beinahe heiß. Und wenn sie ihn berührte, nicht zaghaft wie die anderen, die Angst hatten, er könnte zerbrechen, sondern unzimperlich zärtlich, war er so glücklich, wie sein mandarinengroßes Gehirn Botenstoffe losschicken konnte.
Edna bewarb sich um die Stelle als Sprechstundenhilfe bei einem jungen Arzt, der seine erste Praxis eröffnete, wurde genommen und verließ das Saint Francis. In den ersten Tagen, an denen Edna nicht bei Wilbur war, lag der Junge still und fast reglos da und sah an die Decke aus weißen Kunststoffplatten. Er vermisste Edna. Es war nicht die gleiche Sehnsucht, die ihm nach der Geburt die ersten Qualen seines Lebens bereitete. Er merkte ganz einfach, dass etwas von ihm weggenommen worden war, das nichts und niemand zu ersetzen vermochte. Neue Schwestern kümmerten sich um ihn, einige davon dünn und beinahe brustlos, andere weich und füllig. Alle wussten von der engen Bindung, die zwischen Schwester Edna und Wilbur bestanden hatte, und alle versuchten, ihren Platz einzunehmen. Aber etwas, das sich in den kommenden Jahren zu Wilburs Unterbewusstsein entwickeln würde, weigerte sich, seine Liebe erneut an eine Frau zu verschwenden, an ein neues warmes Wesen, dem er sich hingab und auslieferte, nur um irgendwann verlassen zu werden.
Das erste Pferd seines Lebens sah Wilbur im Park des Kinderheims Chestnut Hill in Reading, Pennsylvania, etwa achtzig Kilometer nördlich von Philadelphia. Die alte, aus mehreren Backsteingebäuden bestehende Anlage hatte bis in die fünfziger Jahre als Kaserne gedient, und sie stand weder auf einem Hügel, noch hatte sie auf ihrem bescheidenen Grund auch nur einen einzigen Kastanienbaum vorzuweisen. Den idyllischen Namen hatte sich ein Komitee ausgedacht, das dem traurigen Zweck des Anwesens, Waisen zu beherbergen, etwas Positives gegenüberstellen wollte. Immerhin lag das Heim außerhalb der Stadt, und von den obersten Zimmern im Ostflügel konnte man das Footballfeld einer Highschool sehen, was zumindest den Jungs im Heim lieber war als langweilige Kastanienbäume.
Lawrence Krugshank, der Leiter des Traktes, wo die Jungen im Alter zwischen wenigen Wochen und zehn Jahren untergebracht waren, wickelte Wilbur am Nachmittag in eine Wolldecke und trug ihn in den Park, der an die Weide eines Bauernhofs grenzte. Leute aus der Stadt hatten ihre Reitpferde auf dem Hof einquartiert, und ab und zu kam eines der Tiere an den Zaun, um sich von den Kindern bestaunen zu lassen.
«Sieh mal, Wilbur, ein Pferd«, sagte Lawrence und nahm Wilburs Hand, damit sie die zarten weißen Nüstern berühren konnte. Aber Wilbur zog die Hand zurück und fing an zu weinen. Lawrence drückte ihn an sich, ging zurück ins Gebäude und schaukelte den Jungen in den Armen, beruhigend auf ihn einredend. Kinder grüßten ihn auf den Fluren, und er lächelte und zwinkerte ihnen zu. Zwei Jungen, die ihn daran erinnerten, dass er mit ihnen im Hof Baseball spielen wollte, vertröstete er auf später. Er bemühte sich, allen seinen Schützlingen gleich viel Aufmerksamkeit und Zuneigung entgegenzubringen, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er an Wilbur einen Narren gefressen hatte.
Während Wilburs ernste Züge die meisten Betreuer verstörten, sah Lawrence darin etwas, das er scherzhaft infantile Weisheit nannte. Er war sicher, dass dieses Kind einen Grund dafür hatte, eine solche Miene aufzusetzen. Er nahm sich vor, Zeuge zu sein, wenn Wilburs Gesicht zum ersten Mal eine Gemütsregung zeigte, die Zufriedenheit, vielleicht sogar Glück ausdrückte. Und er setzte alles daran, diesem Glück auf die Sprünge zu helfen.
Vierzig Tage war es jetzt her, dass die Sozialarbeiterin aus Philadelphia den kleinen Jungen in die Obhut des Heims gegeben hatte, wo er so lange bleiben sollte, bis die vorgeschriebene Frist abgelaufen war, während der Verwandte des Kindes das Sorgerecht beantragen konnten. Wilburs Vater hatte sich nicht mehr im Saint Francis gemeldet, und eine Suchaktion, bei der die Polizei, lokale Zeitungen und Fernsehstationen beteiligt gewesen waren, verlief ergebnislos. Der Mann, dessen Name in den Akten mit Lennard Arne Sandberg angegeben war, schien vom Erdboden verschwunden zu sein. In einer Zeitungsmeldung vom elften April 1980 wurde ein Beamter der Polizei von Philadelphia mit der Vermutung zitiert, Lennard Sandberg habe sich aus Gram über den Tod seiner Frau das Leben genommen.