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Wilbur lag in seinem Bett, lauschte Orlas Summen und bewegte die Finger unter den Handtüchern, zwischen denen ein mit Eiswürfeln gefüllter Plastikbeutel lag. Er hatte seit der Prügelei keinen Ton von sich gegeben, während der Heimfahrt seine aufgedunsenen Hände angestarrt und sich gewünscht, Orla würde das Radio einschalten und so laut singen, wie sie konnte. Im Behandlungszimmer hatte er es vermieden, Conor anzusehen. Er war eingesunken auf dem Stuhl gesessen, während die alte Arzthelferin seine Knöchel mit Jod abtupfte und dabei leise vor sich hin murmelte, kopfschüttelnd und immer wieder enttäuscht mit der Zunge schnalzend.

Er hatte sich im Spiegel an der Wand gegenüber gesehen und nicht geglaubt, dass dieser Zwerg es war, der den auf der Liege ausgestreckten Jungen so zugerichtet hatte.

«Was du getan hast, war falsch«, sagte Orla sanft und strich Wilbur eine Haarsträhne aus der Stirn.»Das weißt du, nicht wahr?«

Wilbur nickte. Er bestrafte sich, indem er die Finger krümmte. Wasser trat in seine Augen, er sah Orlas Gesicht durch einen dünnen Film, der das Licht der Deckenlampe in Stücke brach. Orla lächelte, legte den Kopf schräg und presste die Lippen zusammen. Sie streichelte Wilburs Wangen, ihre Hand roch nach der Salbe. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn.

«Versuch jetzt, zu schlafen.«

Wilbur sah ihr nach, wie sie das Zimmer verließ. Er wusste, sie würde zurückkommen, wenn er schlief, würde sich auf die Wolldecke neben ihn legen und bei ihm sein, wenn er sich im Schlaf drehte und die wunde Schulter ihn weckte. Sie würde immer bei ihm sein. Das war, was Wilbur dachte und was ihn tröstete, bevor er einschlief.

Wilburs Hände heilten langsam. Nachdem die Schwellungen abgeklungen und die Schorfplacken abgefallen waren, konnte er keine Faust mehr machen. Er wollte sich zwar sowieso nie mehr schlagen, aber er schaffte es auch nicht mehr, sicher einen Stift zu halten oder eine Gabel. Orla machte Meerwasser warm, in dem er die Hände baden musste, rieb sie mit einer Tinktur aus Alkohol und Wallwurz ein, massierte sie und kaufte ihm einen Gummiball, den er kneten sollte. Zur Schule musste er nicht, der Arzt hatte ihm ein Attest ausgestellt.

Orla geriet in ein moralisches Dilemma, weil sie einerseits um Wilburs Hände besorgt war, andererseits aber nur halbherzig bedauerte, dass der Heilungsprozess kaum Fortschritte machte und Wilbur bei ihr blieb, statt zur Schule zu gehen. Nach ein paar Tagen war sie mit ihm nach Dublin gefahren, wo seine Hände einem Spezialisten vorgeführt wurden. Der Orthopäde, ein junger Franzose, der dauernd scherzte und Englisch und Muttersprache vermischte, sah sich die Röntgenaufnahmen an und sprach dabei leise seltsame Sätze in ein Diktiergerät, was aussah, als wolle er mit seinen wunderlichen Worten einen in der Faust gefangenen Vogel beruhigen. Dann gab er Orla eine Salbe mit und ermutigte sie, die Therapie mit den Meerwasserbädern und dem Gummiball weiterzuführen. Zum Abschied tätschelte er Wilburs Kopf und nannte ihn little filou.

Da sie nun mal in Dublin waren, beschloss Orla, ihrem Enkel die Stadt zu zeigen, in der sie vor vielen Jahren eine kurze glückliche Zeit mit Eamon verbracht hatte. Sie stellten das Auto in einem Parkhaus ab und ließen sich auf dem Oberdeck eines Busses durch die Straßen schaukeln, gingen im Phoenix Park und entlang dem River Liffey spazieren, aßen in einem Café riesige Portionen Eis und schlenderten Hand in Hand durch Einkaufszentren und von Läden gesäumte Gassen. Wilbur fand nicht, dass er nach der Schlägerei ein Geschenk verdiente, aber Orla kaufte ihm trotzdem eine Uhr mit Lederarmband, die ihr in der Auslage eines Schmuckgeschäfts aufgefallen war. Weil Wilburs Handgelenk schmal wie der Hals einer Ente war, musste die Verkäuferin ein neues Armband dafür holen, eines für Mädchen, wie sie Orla flüsternd verriet. Das Leder war unecht und imitierte die Haut einer Schlange oder eines Reptils, es schimmerte manchmal blau und im nächsten Moment grün, und es fühlte sich glatt an, leicht bucklig und kühl. Wilbur war so stolz darauf, eine Uhr zu besitzen, dass er Orla alle paar Minuten die Zeit mitteilte, und jedes Mal lachte Orla und bedankte sich. Während sie durch die Straßen gingen, hielt Wilbur die Hand mit der Uhr vor sein Gesicht, als wartete er darauf, dass das Datum endlich wechselte. Sprang der Minutenzeiger nach vorne, hüpfte Wilbur, und mit der Uhr an der Ohrmuschel strahlte er vor Freude und Erstaunen über die winzige Fabrik, die unermüdlich und leise klickend Zeit produzierte.

Orla vermied es, in die Nähe der Straße zu kommen, in der sie mit Eamon vor dem Umzug nach Cork gelebt hatte. Das erste Jahr nach der Hochzeit war das beste gewesen, obwohl die fremde Stadt und der plötzliche Wohlstand ihr zu Beginn fast Angst gemacht hatten. Eine Bedienstete kochte und putzte für sie, und es war Orla peinlich, von der Frau, die ihre Mutter hätte sein können, Madam genannt zu werden. Deirdre wohnte eine Zeitlang bei ihnen, und die beiden Schwestern streunten durch die Stadt, blieben vor den Schaufenstern der teuren Geschäfte stehen und trauten sich nicht hinein, weil man ihnen anhörte, woher sie stammten, und weil sie dachten, die feinen Verkäuferinnen könnten den Fisch riechen, mit dem sie aufgewachsen waren.

Zwischen den wuchtigen Häusern kamen sie sich klein vor und fehl am Platz, und nur an den Kais, wo es nach Meer und Tang roch und der salzgetränkte Himmel Weite und Meer andeutete, fühlten sie sich wohl, wurden jedoch schief angesehen in ihren noblen Kleidern und blieben bald einmal zu Hause, lasen Bücher und schrieben lange Briefe an ihre Eltern.

Deirdre hatte sich in Galway in einen jungen Mann verliebt, der nach England gegangen war, wo er, wie seine drei Brüder, Arbeit auf einer Schiffswerft fand. Jede Woche kam ein Brief von ihm, in dem er ihr in sperrigen, aber von Herzen kommenden Worten schrieb, wie sehr sie ihm fehlte. Schon nach wenigen Monaten teilte er ihr mit, er sei todunglücklich in England, vermisse Deirdre und seine Familie und seine Stadt und komme mit dem nächsten Schiff zurück. Kaum hatte Brendan Cavanagh in Galway irischen Boden betreten, heiratete er Deirdre, und Orla war in Dublin alleine mit dem Mann, dessen Wesen sie mit jedem Tag weniger verstand.

Eamon hatte gehofft, Orla würde die Schatten seiner Vergangenheit mit ihrem inneren Feuer verbrennen, würde mit ihrem Lachen die dunklen Gedanken vertreiben, die ihn besetzt hielten wie Krähen einen Turm. All das Geld würde eine Berechtigung erhalten, dachte er, wenn er es für Orla ausgäbe. Läge sie jede Nacht bei ihm, hörten die Träume bestimmt auf, die hell erleuchteten Albträume, in denen er einem Mann eine Wolldecke auf das Gesicht drückte, in denen er Goldstücke aus einem Boot klaubte und gierig verschluckte und in denen er sich in der engen Höhle eines Tieres verkroch, um sein verzerrtes Spiegelbild im blanken Metall eines Revolvers zu betrachten und aufzuschreien vor Entsetzen.

Aber seine Hoffnungen erfüllten sich nicht. Orla lenkte ihn ab und riss ihn aus dem Brüten über seine Sünden heraus, sie warf einen Lichtstrahl in das Loch im Hügel, in dem seine Seele hockte und darauf wartete, erlöst zu werden. Ihre Anwesenheit zwang ihn, unter Menschen zu leben und ihre Sprache zu sprechen, nötigte ihn zu Worten, Gesten, Zeichen von Anteilnahme. Sie half ihm, mit dem Trinken aufzuhören. Was Orla nicht konnte, war, ihren Mann vor seinen Dämonen zu beschützen, ihn mit ihrer Liebe und mit der Kraft ihres Lebens davor zu bewahren, in den langen vor ihnen liegenden Jahren den Verstand zu verlieren.

Hand in Hand gingen sie durch die Stadt, die Wilbur Angst einjagte und zum Staunen brachte. Oft drängten sich so viele Menschen aneinander vorbei, dass Orla ihn an sich zog und vor einer Hausmauer wartete, bis die Flut aus Körpern verebbt war. Dann legte sie ihm beide Hände auf die Schultern oder die Brust, und Wilbur sah den fremden Leuten nach und verspürte kein Verlangen, jemals etwas mit ihnen zu tun zu haben. Nahm das Geschiebe ab, mischten sich die beiden wieder unter die Passanten und schlenderten zu ihrem nächsten Ziel, das sie noch nicht kannten. Vor einem Kino blieb Wilbur stehen und wollte wissen, was sich in dem Gebäude befinde, unter dessen Vordach sie auf dem Gehsteig standen und das man durch zwei Doppeltüren betreten und verlassen konnte. Orla erklärte es ihm und hob ihn hoch, damit er die farbigen Bilder sehen konnte, die in Schaukästen links und rechts neben dem verglasten Kassenhäuschen hingen, in dem eine dünne Frau saß und eine Illustrierte las.